Sonntagsspaziergang.
Inmitten eines Senffeldes, das sich wie ein gelber Teppich bis zum Horizont erstreckt, liegt eine Stille, die fast greifbar scheint. Ein feiner Nebel, der ebenso zart wie bestimmt über die Landschaft streicht, vermischt sich mit dem süßlich-erdigen Duft der Senfblüten. Dieser Duft ist wie eine ständige, leise Flüsterung der Natur. Die Welt wirkt, als wäre sie in ein diffuses, weiches Licht getaucht, das jede Schärfe und jeden Kontrast aus der Landschaft nimmt und alles in eine Art impressionistisches Gemälde verwandelt.
In dieser stillen Szenerie bewegt sich ein älterer Herr mit bedächtigen Schritten vorwärts. Sein Haar, das die Farbe von poliertem Silber angenommen hat, bildet einen auffälligen Kontrast zu dem üppigen Grün und Gelb des Feldes. An seiner Seite, ein treuer Begleiter, ein Golden Retriever, dessen Lebensfreude und Ausgelassenheit in krassem Gegensatz zu der gemessenen Gangart des Mannes stehen. Der Hund springt umher, mal vor, mal neben, mal hinter dem älteren Herrn, als wolle er die fehlende Dynamik seines menschlichen Gefährten ausgleichen.
Während ich mich ihnen nähere, spüre ich eine gewisse Ungeduld in mir aufsteigen. Die Langsamkeit des Mannes steht in direktem Gegensatz zu meinem eigenen Tempo. Doch fast gleichzeitig mit diesem Gefühl der Frustration keimt auch eine Scham in mir auf. Eine Scham darüber, so vorschnell zu urteilen, ohne die Geschichte hinter diesem gemächlichen Schritt zu kennen. Vielleicht hat ihm das Alter oder das Schicksal die Schnelligkeit genommen, vielleicht trägt er eine Last, die ich nicht sehen kann. In diesem Moment des Nachdenkens erkenne ich meine eigene Voreiligkeit und das vorschnelle Fällen eines Urteils, das mehr über mich aussagt als über den Mann vor mir. Diese Situation erinnert mich daran, dass ich es versäumt habe, über das Offensichtliche hinaus zu blicken und die verborgenen Erzählungen dahinter zu suchen.
Ich halte inne, gebe Talko die Freiheit, die Gräser zu erkunden, und lasse den alten Mann seinen Weg fortsetzen. Minuten verstreichen, während ich dort verweile, bevor ich meinen sonntäglichen Spaziergang fortsetze. In dieser Zeit versinke ich in Gedanken über die Momente, in denen ich selbst voreilig beurteilt wurde, und wie bitter diese Erfahrungen für mich waren. Ich reflektiere, wie schnell wir Urteile fällen, ohne das umfassende Bild zu sehen und wie oft wir die kleinen, nicht erzählten Geschichten eines Lebens übersehen. Als der Mann schließlich außer Sichtweite ist, lasse ich Talko frei laufen. Er sprintet mit solcher Geschwindigkeit davon, dass er bald nur noch als ein dunkler Fleck am Ende des Pfades zu erkennen ist. Ein lauter Pfiff von mir, gepresst zwischen zwei Fingern, und er kehrt genauso schnell zurück, wie er verschwunden war.
Wir lassen die Senffelder hinter uns und wandern durch die Landschaft, die nun von abgeernteten Maisfeldern dominiert wird. Allein in dieser Weite, begegnen wir keinem anderen Menschen. Stattdessen kreuzen Wildgänse unseren Weg, sie fliegen so tief, dass ihre Anwesenheit fast greifbar scheint. Ihr aufgeregtes Schnattern bildet einen lebhaften Kontrast zur sonstigen Stille dieses klaren Novembertages. Während ich tief die frische Luft einatme, beginnt in meinem Kopf unwillkürlich die Melodie eines leisen Weihnachtsliedes zu spielen. Es ist, als würde die Natur selbst mich an die bevorstehende Zeit der Besinnung erinnern.
Vor mir taucht ein kleines Heiligenhäuschen auf. Darin hängt ein Kreuz, das die Sterblichkeit Jesu darstellt, ein Symbol des Glaubens und der Vergänglichkeit. Fast so, als wäre es darauf abgestimmt, beginnen in der Ferne die Glocken der ehrwürdigen St. Vitus Kirche zu läuten. Ihr Klang breitet sich weit über die Felder aus, ein Ruf an die Gläubigen, sich zum Gottesdienst zu versammeln. Doch dieser Klang, so festlich und traditionsreich er auch sein mag, ist nicht für mich bestimmt. Vor Jahren habe ich mich von der Kirche und ihren Dogmen gelöst. Ich glaube nicht an die Lehren, die dort verkündet werden. So spaziere ich, umgeben von der Weite des Landes und dem Echo der Kirchenglocken, eingehüllt in meine eigenen Gedanken über Glaube und Zweifel, Tradition und persönliche Freiheit.
Am Rande der Hauptstraße angekommen, leine ich Talko an. Seine jugendliche Ungestümtheit macht es unklug, ihn auf dem Bürgersteig frei laufen zu lassen. Während wir unseren Weg fortsetzen, fällt mein Blick auf eine verlassene Laterne am Straßenrand. Sie zeigt das Bild eines lachenden Mondes, liegt jedoch traurig und vergessen in einer feuchten Ecke, eingebettet in Schmutz. Vielleicht einst von einem Kind in Freude getragen, weist sie nun Spuren der Vernachlässigung auf, zerrissen und kaputt, ihr einstiges Leuchten in der Dunkelheit erloschen.
Mit einer Geste, die sowohl von Respekt als auch von Melancholie getragen ist, hebe ich die Laterne auf und entsorge sie in einem Mülleimer, der einige Meter weiter an einer Bushaltestelle steht. Währenddessen fährt ein Auto vorbei – ein Mercedes. Der Fahrer, ein deutlich älterer Herr, wirft mir einen flüchtigen Gruß zu. Ich erwidere den Gruß und setze meinen Weg fort. In diesem Moment, mit der kalten Luft um mich und dem Gedanken an die verlorene Laterne, sehne ich mich nach der Wärme und heißen Tasse Tee.
Nach meiner Rückkehr nach Hause widme ich mich zuerst Talko, füttere ihn sorgfältig. Dann trage ich Holz aus dem Schuppen ins Haus, um das Feuer im Kamin neu zu entfachen. Das Knistern der Flammen bringt eine beruhigende Wärme in den Raum. Ich setze Wasser zum Kochen auf, dessen Zischen und Brodeln einen angenehmen Kontrast zum gleichförmigen Surren der Kaffeemaschine bildet. Talko findet seinen Platz in der behaglichen Wärme des Kamins, auf seinem Kissen, und lässt sich bald in einen tiefen Schlaf fallen. Ich hole mein Notebook, bereite mir eine Tasse Tee zu und beginne zu schreiben. In diesen ruhigen, fast meditativen Momenten finde ich mich selbst wieder und lasse meine Gedanken auf das digitale Papier fließen. Der erste Tag der Woche hat für mich begonnen – ein neuer Anfang, geprägt von der stillen Routine des Morgens und der Besinnlichkeit, die das Feuer im Kamin mit sich bringt.