Die Geometrie der Zeit.

Wir messen, was wir nicht verstehen.

Und vielleicht ist die Zeit ja gar kein gerader Weg. Kein Strom, der uns irgendwohin führt. Vielleicht ist sie mehr wie ein Raum, der sich dehnt und zusammenzieht. Wie ein Atem, den man nicht kontrollieren kann. Die meisten Menschen glauben, sie würde vergehen, als könnte man sie verlieren, wenn man nicht aufpasst. Aber das stimmt nicht. Sie vergeht nicht. Sie bleibt. Wir sind es, die sich hindurchbewegen, wie Staub, der kurz im Licht schwebt, bevor er wieder verschwindet. Und wenn du genau hinsiehst, merkst du, dass sie überall ist. In den Linien deines Gesichts, das du jeden Tag im Spiegel siehst. In der Art, wie sich das Licht am Nachmittag verändert. In der Stille zwischen zwei Sätzen, wenn niemand mehr etwas zu sagen hat. Die Zeit lebt in diesen Momenten, sie atmet durch uns hindurch. Und während wir glauben, voranzukommen, hält sie uns längst in der Hand. Trotzdem denke ich oft, sie ist nachsichtiger, als wir glauben. Sie zerstört nicht. Sie verändert. Sie nimmt nichts mit Gewalt, sie nimmt nur das, was ohnehin gehen wollte. Erinnerungen. Stimmen. Gedanken. Und doch lässt sie Spuren zurück. Plötzlich ist da eine Melodie, die du wiedererkennst. Ein Geruch, der dich an etwas erinnert, das du längst vergessen hattest. Ja, ich glaube, so arbeitet sie. Still. Beständig. Ohne Eile. Ohne Druck. Auch wenn wir oft etwas anderes glauben.

Ich sitze am Fenster. Halte mit beiden Händen meine Tasse fest, als könnte ich die restliche Wärme speichern. Aber das kann ich nicht. Draußen hängt der Abend zwischen Grau und Gold. Es scheint fast, als hätte die Sonne vergessen, wohin sie gehört. Und irgendwie verstehe ich sie. Auf dem Fensterbrett steht eine alte Uhr. Ein Geschenk aus längst vergangenen Zeiten, von einem Menschen, der nicht mehr da ist. Sie hat einen Sprung im Glas. Noch tickt sie, aber unregelmäßig. Ich lächle, weil ich denke, dass sie ebenfalls einfach beschlossen hat, sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Da ist dieses Zittern des Sekundenzeigers. Dieses nervöse, kleine Zucken, das doch alles bedeutet. Früher hätte ich mich darüber geärgert, weil die Zeit dieser Uhr nicht so läuft, wie man es erwartet. Heute lasse ich sie einfach laufen. Nicht alles muss repariert werden. In der Küche steht noch ein Topf auf dem Herd. Das Wasser darin spiegelt das Licht des Fensters. Für einen Moment erkenne ich mein Gesicht darin. Blasser als früher. Aber irgendwie klarer. Ich erinnere mich an Tage, die länger waren. Oder waren sie nur voller, gefüllt mit Eindrücken, die geblieben sind? Ich weiß es nicht. Da war Lärm. Da waren Stimmen. Da war Bewegung. Jetzt? In diesem Augenblick ist es still. Nur das Ticken der Uhr, fast gleichmäßig und doch beruhigend. Die Zeit geht weiter, auch wenn ich stehen bleibe. Zurück am Fenster sehe ich, wie die Schatten sich über den Boden schieben. Alles ist in Bewegung, auch das, was stillsteht. Ich hebe die Hand, als könnte ich den letzten Lichtstreifen halten, bevor er verschwindet. Draußen lösen sich Blätter von den Eichen. Der Wind zieht sie von den Ästen. Ohne Hast. Ohne Hektik. Vielleicht ist es nur der Moment, in dem sich etwas löst, sich dreht und lautlos zu Boden fällt. Auch das ist Zeit. Nicht das Ticken der Uhr. Nicht das, was wir zu messen versuchen. Sondern das Loslassen.

Ein Schluck Kaffee. Draußen fährt ein Auto über die Straße, trifft eine Pfütze, das Wasser spritzt in alle Richtungen. Zurück bleiben Wellen, die langsam auslaufen. Ein Teil des Wassers fließt in eine andere Ecke, ein Teil kehrt zurück. Und nichts ist mehr, wie es vorher war. So funktioniert Zeit. Nicht wie ein Strom, der fließt, sondern wie Bewegung, die Form verändert. Verlagerung. Ein Verschieben von dem, was war, zu dem, was sein wird. Und trotzdem zählen, messen, vergleichen wir. Ständig im Glauben Kontrolle zu haben, wenn wir dem Unendlichen Zahlen geben. Dabei haben wir keine Ahnung, wovon wir sprechen. Wir haben Maßeinheiten erschaffen, um uns selbst zu beruhigen. Sekunden. Meter. Kilogramm. Alles nur Worte, um uns in einem Universum zu orientieren, das wir nicht begreifen können. Wir sagen eine Sekunde, wenn sich die Erde ein Stück weiterdreht. Ein Jahr, wenn sie ihre Umlaufbahn vollendet hat. Und doch das sind nur Etiketten. Spuren in Sand geschrieben, bevor die Wellen kommen. Vielleicht ist Zeit nichts, das vergeht. Vielleicht ist sie die Veränderung selbst. Etwas, das nicht an uns vorbeizieht, sondern durch uns hindurch. Wir sind nicht außerhalb der Zeit, wir sind ihre Bewegung, ihre Dehnung, ihr Atem.

Wissenschaftlich, ja, kann man sie messen. Aber selbst dort bleibt sie relativ. So wie Einstein es mal sagte, sie ist nicht fest. Sie dehnt sich, krümmt sich, verlangsamt sich. Für den, der stillsteht, vergeht sie anders als für den, der sich schnell bewegt. Und vielleicht ist in gewisser Weise alles gleichzeitig. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Alles Schichten derselben Landschaft. Nur unser Bewusstsein geht hindurch und nennt das Bewegung. Vielleicht ist es das, was Leben wirklich ist, ein Riss im Gewebe der Zeit, durch den das Bewusstsein hindurchsieht. Für einen Augenblick. Ich weiß, es klingt verrückt, aber manchmal stelle ich mir vor, dass alles, was war und sein wird, längst da ist. Dass nichts entsteht und nichts vergeht, sondern nur aufleuchtet, für den Bruchteil eines Moments. Und dass wir, während wir uns an Sekunden festhalten, glauben, etwas verstanden zu haben. Dabei sind wir nur Zeugen einer Illusion, die uns ruhig schlafen lässt. Vielleicht ist Zeit kein Maß, sondern ein Spiegel. Und was wir darin sehen, sind nicht die Jahre, die vergehen sondern immer die Veränderungen in uns, die wir nicht wahrhaben wollen.

Der Kaffee ist nur noch lauwarm. Die Dunkelheit liegt mittlerweile schwer über den Dächern der Vorstadtsiedlung. Draußen hat der Regen begonnen. Gleichmäßig, als würde die Nacht selbst atmen. Talko liegt neben mir, hebt den Kopf, seine Augen folgen mir, während ich den letzten Schluck trinke. Er steht auf, kommt näher, stupst mit der Nase gegen mein Bein. Ein Zeichen, das vielleicht mehr sagt als Worte. Vielleicht will er raus. Vielleicht merkt er nur, dass ich zu lange stillgesessen habe. Ich nehme die Leine und vergesse die Jacke. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss. Die Luft draußen ist kalt. Schärfer, als sie es noch vor ein paar Wochen war. Der Sommer ist vorbei. Da ist kein Wind mehr, der Wärme trägt. Nur Regen, der fällt. Gleichgültig als wüsste er, dass alles irgendwann ausgelöscht wird. Selbst die Erinnerung daran, wie es einmal roch, wenn die Sonne die Straßen trocknete. Ich gehe langsam, höre das Tropfen auf dem Asphalt. Talko läuft voraus, bleibt stehen, dreht sich um, prüft, ob ich nachkomme. Ich tue es. Natürlich. Und vielleicht tue ich das schon mein ganzes Leben. Einfach folgen. Schritt für Schritt, durch das, was Zeit hinterlässt. Ich denke an die Tage, die hell waren. An Nachmittage, die sich wie Versprechen anfühlten. Aber sie sind vorbei, ohne dass ich es gemerkt hätte. Vielleicht ist das der wahre Trick der Zeit. Wie gesagt, sie nimmt dir nichts mit Gewalt. Sie lässt dich glauben, du hättest noch genug davon. Und während du rechnest, misst, planst, zieht sie leise Linien um dich herum, verschiebt das Licht auf den Dingen und eines Tages erkennst du die Welt nicht mehr wieder, obwohl du nie weg warst.

Wir biegen in die kleine Straße ein. Wasser sammelt sich in Rinnen, die Laternen spiegeln sich darin wie Erinnerungen, die sich weigern, endgültig zu verschwinden. Ich sehe wieder mein Spiegelbild. Diesmal verzerrt. Flüchtig, im Wasser eines Bordsteins. Nichts hält lange. Nicht der Regen. Nicht das Licht. Nicht wir. Man könnte meinen, dass alles vergeht, damit Bewegung bleibt. Der Sommer musste gehen, damit der Herbst Platz findet. Etwas Altes stirbt, damit etwas anderes atmen kann. Vielleicht hat die Zeit gar kein Ziel. Vielleicht ist sie einfach das, was bleibt, wenn alles andere aufhört, sich zu wehren.

Ich bleibe kurz stehen, sehe in den Himmel, wo kein Stern zu sehen ist. Nur Wolken, schwer und träge. Talko wartet, blickt mich an, und in seinem Blick liegt diese einfache Wahrheit, die Menschen selten begreifen. Das Leben ist keine Abfolge von Momenten. Sie ist eine einzige, endlose Gegenwart, die wir zu zerteilen versuchen, weil wir Angst vor ihrer Tiefe haben. Ich streiche ihm über den Kopf, gehe weiter. Der Regen wird stärker, die Straße glänzt. Und während wir durch die Dunkelheit laufen, denke ich immer noch über die Zeit nach. Sie ist das, was bleibt. Sie trägt uns, verändert uns, formt uns. Und wenn der Morgen kommt, wird alles ein wenig anders aussehen, ohne dass jemand sagen könnte, warum.