Wenn Sommer geht.
Ein Weg zu den Steinen.
Der Sommer zieht vorbei. Die alten Fachwerkfassaden lehnen sich dicht aneinander, schwarz und weiß wie ein Gedicht, das niemand je zu Ende geschrieben hat. Auf den Pflastersteinen liegt das erste welke Laub. Man bemerkt es kaum, und doch erzählen die Blätter, dass diese Jahreszeit vergeht. Im Wind liegt der Geruch von feuchtem Holz, von einer Kühle, die bleiben wird. Auf einer Mauer streckt sich eine Katze, träge, als sei auch sie ein Teil dieser Müdigkeit. Sie hebt kurz den Kopf, als jemand vorbei geht und legt ihn unbeeindruckt wieder ab. Am Ende des Augusts sortiert man, was von den Wochen übrig ist. Manche Bilder verblassen schnell, andere öffnet man immer wieder, wie kleine Schachteln voller Licht. Ob der Sommer gut oder schlecht war, spielt keine Rolle mehr. Wichtig ist nur, was bleibt. Die Abende, die man nicht vergessen will. Das Lachen, das man aufbewahrt. Die kleinen Stunden, die wärmen, wenn die Tage dunkel werden. Vielleicht ist es ja das Beste, die letzten Tage des Sommers mit Momenten zu füllen, die genau das tragen. Damit man sie hervorkramen kann, wenn der Himmel dunkelgrau ist und der Wind kälter durch die Gassen zieht.
Wir steigen ins Auto. Eine knappe Stunde Fahrt liegt vor uns. Genug Zeit, um zu reden, während die Straßen sich durch Felder und kleine Orte ziehen. Noch bevor wir den Ort verlassen, halten wir an einer Bäckerei. Drinnen riecht es nach frischem Brot, nach Kaffee und süßem Gebäck. Ein paar Brötchen, frisch geschmiert und in Papier gewickelt, wandern in die Tüte, dann in den Rucksack. Nichts Besonderes, doch genau das Richtige für diesen Tag. Der Himmel wirkt, als wolle er sich öffnen. Graue Schleier hängen tief, schwer und fast unbeweglich über den Dächern. Doch an diesem Tag reißen sie nicht. Er bleibt geschlossen, als hielte er den Regen zurück. Die Landschaft zieht vorbei, erst sanft, dann rauer, bis in der Ferne die Konturen der Bruchhauser Steine auftauchen. Ein Ort, der wirkt, als sei er schon immer dort gewesen, gleichgültig gegenüber allem, was vergeht.
Am Parkplatz vor dem Info-Center liegt eine eigentümliche Ruhe. Nur wenige Autos stehen in der Reihe. Als die Klappe des Kofferraums aufgeht, springt Kalle, der Deutsch-Jagdterrier, sofort hinaus. Er landet, schüttelt sich und beginnt, die Umgebung in Besitz zu nehmen. Er schnuppert an Büschen, verschwindet halb in einem Strauch, hebt die Nase und atmet die Luft, als wollte er sie ganz für sich beanspruchen. Nach Sekunden ist klar, dass dieser Ort jetzt auch zu seinem Revier gehört. Ich muss lachen. Wir nehmen uns Zeit, schnüren die Schuhe fest, ziehen die Rucksäcke zurecht. Vor dem Info-Center hängt der Geruch von Wald und trockener Erde. Drinnen kaufen wir die Tickets. Der Weg beginnt harmlos, zwischen Bäumen, die dicht stehen und deren Kronen den Himmel fast verschließen. Es riecht nach Moos und Pilzen, nach einer Wärme, die noch vom Sommer erzählt. Unter den Schuhen knirscht feiner Kies, leise, gleichmäßig und irgendwie schön. Kalle läuft an der Leine voraus, zieht mal nach links, mal nach rechts, als wolle er nichts verpassen. Für mich ist es der zweite Aufstieg in diesem Jahr. Und das allein sagt genug. Man kehrt nicht zurück, wenn ein Ort nichts in einem berührt. Die Steine dort oben sind mehr als nur Felsen. Sie stehen da, unbewegt, und doch erzählen sie Geschichten von Zeiten, die wir vergessen haben, von einer Welt, die ohne uns weitergeht. Ich glaube, wer dafür empfänglich ist, der findet hier etwas, das bleibt.

Wie erwähnt, ich war in diesem Jahr schon hier. Allein. Es war ein Tag, an dem der Sommer in vollem Saft stand. Die Luft flimmerte, das Grün der Wälder leuchtete. Es gab kein Gespräch, niemand war neben mir. Nur meine und Talkos Schritte auf dem Kies, das gleichmäßige Atmen, das sich mit dem Summen der Insekten mischte. Ich erinnere mich an die Pausen, an das Wasser, das in der Flasche längst warm geworden war, und an die Ruhe, die sich in mir ausbreitete. Sie hatte nichts Einsames, sondern etwas Schönes, als würde mich dieser Ort aufnehmen, ohne etwas zu verlangen.
Jetzt, Ende August, ist es ein anderer Weg, obwohl es derselbe ist. Die Luft ist kühler, der Himmel schwerer, die Farben stumpfer. Das Grün, das im Juli noch überquoll, hat an Glanz verloren. Es ist, als hätte die Natur in wenigen Wochen ein Kapitel abgeschlossen, das man nicht zurückblättern kann. Neben mir eine vertraute Stimme, Gespräche, ein Hund, der manchmal ungeduldig an der Leine zieht. Es ist ein anderes Gehen, lauter und trotzdem mit derselben Ahnung, dass auch dieser Tag sich in Erinnerung verwandeln wird. Seltsam, denke ich, wie nah beides beieinanderliegt und sich doch anfühlt, als läge ein ganzer Sommer dazwischen. Was eben noch Gegenwart war, ist jetzt Erinnerung. Was wir heute erleben, wird morgen dasselbe Schicksal haben. Dann sortiert man diese Tage ein wie kleine Schachteln, legt manche einfach weg und öffnet andere wieder und wieder, weil sie einen wärmen.

Die Steine tauchen auf. Sie kennen keinen Juli, keinen August, keinen Unterschied zwischen einem heißen Sommertag und einem kühlen Spätsommer. Für sie ist alles nur Zeit, die vergeht. Gleichgültig, endlos. Für mich aber sind es Bilder, die nebeneinanderliegen. Ein Tag im Juli, hell und drückend, allein. Ein Tag Ende August, grauer, geteilt mit jemandem, den ich mag. Zwei Augenblicke, die schon beginnen zu verblassen und die doch bleiben, weil man sie nicht vergessen will.
Der Sommer zieht vorbei. Ob er heute, morgen oder erst in ein paar Tagen endet, spielt keine Rolle. Der Kalender mag zwar seine Linien ziehen, doch in Wirklichkeit gibt es keine scharfen Kanten. Alles fließt. Alles geht immer ineinander über. Tag und Nacht. Ebbe und Flut. Anfang und Ende sind nur Namen, die wir erfinden, um Wandel für uns greifbar zu machen. Trotzdem schließe ich das Kapitel des Sommers 2025 mit dem heutigen Tag. Mit einem lachenden Auge. Vielleicht auch mit einem, das ein wenig wehmütig zurückschaut, denn ich weiß, dass manche Stunden dieses Sommers nie wiederkehren werden. Sie mögen sich eines Tages ähneln, aber niemals werden sie noch einmal so sein, wie sie waren. Und ich glaube, darin liegt ihr Wert. Sie sind einmalig, Singulär. Flüchtig und gerade deshalb so unfassbar wertvoll. Trotzdem kämpfe nicht mehr darum, dass etwas bleibt. Stattdessen lasse ich alles ziehen, was gehen will. Ich nehme an, was kommt, und bewahre, was geht, als Erinnerung, so wie es war.

Ja, vielleicht ist es genau das, was die Bruchhauser Steine einem zuflüstern. Also, dass alles vergeht und doch immer etwas irgendwie bleibt. Nicht die Tage selbst, nicht die Stunden, sondern die Bilder, die wir in uns tragen. Ein Tag im Juli. Ein Tag Ende August. Zwei Augenblicke, die längst beginnen zu verblassen und doch leuchten, weil man sie nicht vergisst. Wir gehen den Weg zurück, über Kies und Laub, vorbei an Büschen, an denen der Hund noch einmal schnuppert. Der Himmel bleibt geschlossen, das Ende des Sommers leise. Aber in mir ist er noch da. Als Erinnerung. Als etwas, das bleibt.