Kein Donnerschlag.
Nur Staub auf der Haut.
Der Kaffee auf dem Tisch ist halb leer, längst kalt, doch er gehört dazu wie das Schweigen zwischen zwei Sätzen. Draußen zieht die Welt ihre Bahnen, als wäre alles längst entschieden. Sterne stürzen vom Nachthimmel, ohne dass jemand es bemerkt. Vielleicht ist unser Leben nicht mehr als ein kurzer Wimpernschlag im Dunkel, ein Atemzug, der sich verliert. Und trotzdem bleibt da dieses Drängen, die Nähe einer Haut, das Gewicht einer Hand. Manchmal reicht ein Blick, um alles infrage zu stellen. Ein Raum, zwei Menschen, ein Herzschlag zu viel. Die Zeit hält nicht an, aber für einen Moment tut sie so, als könnte sie es…
Manchmal meint man es, aber die Welt ändert sich nicht laut. Sie tut es leise. Ein Schatten verschiebt sich. Ein Blick dauert länger als er sollte. Eine Tür fällt ins Schloss. Und plötzlich bist du nicht mehr der, der du gestern warst. Veränderungen kommen nicht wie Stürme. Sie kommen wie Staub, der sich unbemerkt auf deine Haut legt, bis du merkst, dass du eine andere Gestalt angenommen hast. Ende und Anfang sind kein Gegensatz. Sie sind das gleiche Gesicht im Spiegel. Nur leicht anders. Man verliert etwas, das man für unverrückbar hielt und findet sich in einer neuen Ordnung wieder, die längst auf dich gewartet hat. Vielleicht ist das Leben nichts weiter als ein ständiges Verlernen, ein Auflösen in dem, was bleibt. Und wenn man Glück hat, ist da jemand, der still neben einem sitzt. Jemand, der den Kaffee nicht trinkt, aber versteht, warum er kalt werden durfte.
Man sagt, Kafka habe einmal geschrieben, das Leben sei ein Maskenball, und er schäme sich, ohne Maske erschienen zu sein. Vielleicht stimmt das. Vielleicht auch nicht. Egal. Ich verstehe das. Doch bei mir ist es anders. Ich habe fast nie ohne Maske am Leben teilgenommen. Ich habe sie gewählt. Immer. Keine einzige wurde mir aufgezwungen. Ich trug sie wie eine zweite Haut. Aus Angst. Aus Schwäche. Aus dem Wunsch, gesehen zu werden. Und doch führten sie mich weg von dem, der ich wirklich bin. Vielleicht war ihr einziger Sinn, mich zu schützen. Nicht, weil ich mich nicht ertrug, sondern weil ich Angst davor hatte, nicht genug zu sein. Nur selten gab es Ausnahmen. Zwei, vielleicht drei Menschen, vor denen ich sein konnte, wer ich wirklich bin. Bei ihnen durfte ich lachen, ohne den Gedanken zu tragen, was dieses Lachen kosten könnte. Ohne Angst haben zu müssen, dass es mir wieder genommen wird. Sie gehören zu den Besten meines Lebens.
Ende September. Der Herbst nimmt dem Sommer das Leben. Nicht auf einmal, sondern in kleinen Zügen. Erst die Nächte, die kühler werden. Dann das Licht, das nicht mehr warm, sondern scharf durch die Bäume fällt. Am Ende sind es die Blätter, die fallen. Eines nach dem anderen, bis der Sommer nur noch in der Erinnerung weiterlebt. Und man beginnt zu sortieren, was bleibt. Momente in der Heide, das trockene Gras unter den Füßen, die Luft, die nach Erde roch, der Regen am Schafstall. Wege zwischen den Bruchhauser Steinen, leicht und hell, als würde alles von selbst getragen. Gespräche, die ohne Gewicht waren und gerade deshalb blieben. Ein Lächeln, das nicht gesucht werden musste. Worte, die keinen Zweck hatten, außer da zu sein. Und Kalle, der kleine Deutsch-Jagdterrier, der wie ein Wächter immer wieder vorauslief, verschwand, zurückkam, als wollte er sagen: Hier ist es gut. Zufällige Berührungen, beiläufig, fast unscheinbar und doch das, was im Gedächtnis Wurzeln schlägt. Vielleicht ist es so, dass die schönsten Augenblicke immer jene sind, in denen keine Maske nötig ist. In denen man nicht nachdenkt, nicht spielt, sondern einfach ist. Echt. So schlicht, dass selbst ein ausgestreckter Mittelfinger Teil der Nähe wird. Ein Scherz und zugleich ein Versprechen.
Und jetzt, da der Herbst das grüne Laub von den Ästen zieht und der Sommer in ihnen stirbt, versteht man, dass Wert nichts mit den Augen der anderen zu tun hat. Man muss nichts leisten, um zu gefallen. Man muss nichts vortäuschen. Es geschieht von selbst, wenn man sich zeigt, wie man ist. Und wer bleibt, bleibt deshalb. Die, die gehen, waren nie wirklich Teil von einem. Sie hielten sich nur an den Masken fest.
Der Kaffee auf dem Tisch ist längst leer, die Tasse kalt. Und doch erzählt er von dem, was bleibt, wenn alles andere vergeht. Wie ein Beweis dafür, dass die Zeit nicht anzuhalten ist. Ich will keine Masken mehr tragen. Nicht jetzt, nicht später. Aber Masken fallen nicht in einem Augenblick. Sie kleben, weil man sie zu lange getragen hat. Veränderung kommt nicht wie ein Donnerschlag. Sie kommt leise, fast unbemerkt. Ein Gedanke, der anders klingt. Ein Satz, den man nicht mehr glaubt. Ein neuer, der sich langsam über den alten legt. Was so einfach scheint, wird schwer, wenn man merkt, wie tief die alten Überzeugungen in einem wurzeln. Sie halten fest, wie Ketten, die niemand angelegt hat außer man selbst. Und doch lässt sich etwas lösen. Schritt für Schritt. Man legt ab, was nicht mehr zu einem gehört. Man schafft neue Sätze, neue Wahrheiten. Sie brauchen Zeit, bis sie Teil werden von dem, der man ist. Vielleicht ist das der Weg. Langsam, unbeholfen, schmerzhaft und zugleich notwendig. Ein Blick, ein Atemzug, eine Geste, die andeutet, dass Veränderung möglich ist.
Und vielleicht genügt genau das, um zu beginnen.
Egal, wie spät es ist.