Vom Sterben der Dinge.

Wir verglühen, ohne es zu merken.

Es tickt… Irgendwo, während ich am Fenster sitze. Draußen fast nur Stille. Der Himmel hängt schwer über allem. Es ist einer dieser Tage, an denen die Welt so ruhig scheint, dass man das eigene Atmen hört. Der Dampf meiner Tasse verliert sich. Langsam. Das Licht ist gedämpft. Der Wind hat aufgehört, selbst die Bäume wirken, als würden sie meinen Gedanken zuhören. Vielleicht gibt es immer wieder diese Momente, in denen ich begreife, dass das Universum gar nicht da draußen ist, sondern hier. Überall. Um uns herum. In uns. In jeder Zelle. In jedem Atemzug. In jedem Gedanken, der kurz aufflackert und wieder vergeht. Und wenn ich diesen Gedanken Raum gebe, verstehe ich mehr und mehr, was es bedeutet, nicht getrennt von all dem, sondern ein Teil von allem zu sein. Und doch verhalten wir Menschen uns oft so, als stünden wir außerhalb. Als könnten wir das Leben beobachten, statt es wirklich zu leben, statt es zu sein. Draußen gehen Menschen vorbei. Sie folgen ihrem Weg, blicken weder nach rechts noch nach links. Einer schaut auf die Uhr, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und alle gehen ein wenig schneller. Wir hetzen, als wäre Zeit ein Gegner, und vergessen, dass sie unser Blut ist. Währenddessen bewegt sich das Universum, dessen Teil wir sind und immer waren, in einer Gelassenheit, die wir verlernt haben. Sterne verglühen, Planeten kreisen, Lichtjahre vergehen und alles bleibt in Ordnung. Kein Lärm. Keine Eile. Nur das leise Ticken der Ewigkeit. Und wir? Wir füllen Kalender, als ließe sich Sinn addieren. Wir zählen Minuten, als wären sie etwas wert. Vielleicht liegt genau darin unser Fehler. Draußen läuft alles im eigenen Takt, drinnen überschlagen sich die Gedanken. Erinnerungen, die man nicht mehr ändern kann. Ich frage mich, wann wir schneller wurden als das Leben selbst. Vielleicht in dem Moment, als wir Angst bekamen, es zu verlieren. Doch das Universum kennt keine Angst. Es geschieht. Es lässt geschehen. Und ich sitze hier, immer noch im gleichen stillen Licht, während draußen alles ruht und trotzdem weitergeht. Vielleicht ist das der wahre Abstand zwischen uns und dem Rest des Seins, nicht Raum, nicht Zeit, sondern die Unfähigkeit, einfach still zu sein.

Der Tag ist müde geworden. So wie jemand, der zu lange wach war. Ich sitze immer noch am Fenster. Auf dem Fensterbrett die Tasse. Längst kalt. Irgendwo das Ticken. Die Sekunden tropfen gleichmäßig. Aber irgendwie ohne Bedeutung. Und doch spüre ich dieses Drängen unter der Haut. Kein Schmerz. Eher ein Ziehen. So, als wollte etwas wachsen, das keinen Platz findet. Ein leises Flüstern, das mir sagt, dass ich nichts ändern muss, aber will. Nicht weil das Leben schlecht ist. Sondern weil etwas fehlt. Ein Ton, der nicht mehr klingt. Ein Atemzug, der stockt. Ich schaue durch das Fenster in den wolkenverhangenen Himmel, der langsam die Farbe der Nacht annimmt. Vielleicht ist das Universum wirklich voller Frieden. Aber selbst in diesem Frieden bewegt sich alles. Sterne kollabieren, Pflanzen brechen durch Beton. Selbst der Staub auf dem Fensterbrett verändert sich, während ich ihn ansehe. Alles dehnt sich, schiebt sich nach außen, unmerklich und doch unaufhaltsam. Alles wächst immer von innen nach außen. Leise, aber trotzdem. Es gibt keine andere Art von natürlichem Wachstum. Es geht nur von innen nach außen. Zuerst war da ein Puls. Ein Gedanke. Ein Herzschlag. Immer. Unbeirrbar. Und vielleicht ist das, was wir Unruhe nennen, nur das Echo dieses Wachstums. Ein Zeichen, dass wir leben. Ich schaue auf die Straße, sehe die Laternen angehen, eine nach der anderen. Drinnen flackert das Licht, draußen zieht die Nacht auf. Und irgendwo, zwischen dem, was bleibt und dem, was vergeht, verstehe ich kurz, dass das Universum nicht ruht, sondern atmet. So wie ich. Nur gleichmäßiger.

Ich schaue in das Fensterglas, das mehr spiegelt als zeigt. Draußen ist es längst Nacht geworden. Mein Gesicht überlagert sich mit der Dunkelheit, als wäre ich beides – das, was ich sehe, und das, was mich ansieht. Es gibt einen Moment, in dem ich denke, dass Veränderung vielleicht genau hier beginnt: in diesem stillen Blick, der nichts beschönigt. Man kann nicht ewig derselbe bleiben. Die Dinge verändern sich, ob man will oder nicht. Alles wächst von innen nach außen – Bäume, Wunden, Gedanken, selbst das Licht. Nur wir Menschen versuchen, dagegenzuhalten, aus Angst, uns zu verlieren. Aber vielleicht verliert man sich nicht. Vielleicht findet man sich erst, wenn man aufhört, festzuhalten. Ich weiß, dass ich mich verändern muss. Nicht für andere, nicht, weil etwas fehlt, sondern weil in mir etwas drängt, das nicht länger in mir bleiben will. Etwas, das hinaus will in die Welt, egal, ob sie zuhört oder nicht. Veränderung ist kein Entschluss, sie ist ein Zustand, der schon begonnen hat, bevor man ihn bemerkt. Ich spüre sie jetzt – irgendwo tief unter der Haut, wo alles Leben anfängt. Leise, aber unaufhaltsam. Wie das Universum selbst. Und vielleicht geht es am Ende nur darum: sich wieder dem Rhythmus anzugleichen, dem man längst angehört, ohne es zu wissen.

Und plötzlich, in genau diesem Moment begreife ich eine Sache. Jede Veränderung ist ein stiller Tod. Kein plötzlicher. Kein dramatischer. Sondern einer, der sich über Jahre zieht. Unbemerkt, während man lacht, arbeitet, liebt, leidet. Man stirbt nicht einmal, sondern in kleinen Stücken. Jedes Mal, wenn man etwas loslässt, von dem man glaubte, es würde für immer sein. Eine Erinnerung. Ein Gesicht. Ein früheres Ich. Ein Mensch. Ein Traum. Und wenn man dann zurückblickt, erkennt man, dass man längst ein anderer geworden ist, ohne es zu bemerken. Vielleicht ist das das eigentliche Gewicht des Lebens. Nichts bleibt. Alles vergeht. Und wir machen trotzdem weiter. Immer weiter. Als wäre es ein Trost, dass selbst der Schmerz ein Teil von uns ist, der lebt.

Nach dem Regen.

Aber es hört nie ganz auf zu regnen.

Der Regen hat aufgehört. Und doch ist die Welt noch voll davon. An einem Haus läuft Wasser aus den Rinnen des Daches, sammelt sich am Rand der Straße und findet immer neue Wege, um irgendwohin zu verschwinden. Der Himmel ist bleigrau. Wie längst gebrauchte Leichentücher, ohne Kontur, als hätte er die Form vergessen. Die Felder liegen hügelig und schwer. Übersättigt von dem, was war. Ich gehe ein Stück die Landstraße hinunter. Der Asphalt ist dunkel, gesprenkelt von Pfützen, in denen sich bei näherer Betrachtung die Bäume spiegeln. Verdreht. Wie Erinnerungen, die man nicht mehr richtig zusammensetzen kann. Am Straßenrand steht ein alter Zaun aus Holz. Nass. Rissig. An einigen Stellen mit Moos überzogen. Ein Vogel sitzt dort. Klein. Fast unscheinbar. Vielleicht bleibt er deshalb. Vielleicht, weil er verstanden hat, dass man manchmal einfach nur aushalten muss. Der Wind, der von Westen kommt, trägt den Geruch von nasser Erde mit sich. Und auch das entfernte Dröhnen einer Bundesstraße. Alles vergeht. Und alles bleibt. Der Regen hört auf, aber die Nässe bleibt noch im Boden. Der Tag geht zu Ende, aber das Licht hängt noch eine Weile in den Pfützen. Manchmal frage ich mich, ob Bewegung überhaupt etwas verändert oder ob sie nur dafür sorgt, dass wir glauben, wir kämen irgendwo an. Weiter unten beginnt die Stadt. Zunächst nur einzelne Häuser. Verstreut zwischen den Hängen. Dann werden sie dichter. Geordneter. Größer. Als hätte jemand beschlossen, das Chaos zu zähmen. Auf einem Hof im Industriegebiet steht ein alter Bus. Das Dach voller Laub. Daneben stapeln sich Reifen. Auch hier hat der Regen Spuren hinterlassen. Kleine Rinnsale, die sich über Beton ziehen. Fast so, als wüssten sie noch nicht, dass hier kein Boden ist, der sie aufnehmen kann. Hinter einer Scheibe flackert ein Fernseher, und auf dem Bürgersteig liegen Zigarettenstummel. Ein Junge fährt mit dem Fahrrad vorbei. Das Schutzblech klappert. Der Reifen schleudert Tropfen auf seine Hose. Nichts davon ist besonders, und doch erzählt es vom Leben, wie es weitergeht. Auch dann, wenn niemand hinsieht.

Ich gehe weiter. Langsam. Mit den Händen in den Taschen. Vorbei an Garagen. Hallen. Werkstätten. Hier und da Gebäude mit verblassten Firmenschildern. Irgendwo klappert ein Rolltor. Glaube ich. Metall auf Beton. Auf einem Schild steht „Zu vermieten“. Der Lack blättert bereits ab. Einen Augenblick bleibe ich stehen. Vielleicht war dort mal eine Tischlerei. Oder ein Traum, der sich nicht mehr gerechnet hat. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Manchmal rechnen sich die eigenen Träume nicht. Vielleicht waren es auch nur die falschen. Hinter einer der staubigen Scheiben hängt ein alter Kalender. Einer dieser großformatigen, mit halb verblassten Fotografien von Models zwischen Werkzeugen, Autos und Maschinen. Es gibt Männer, die mögen sowas. Ich nicht. Die Jahreszahl kann ich nicht erkennen, nur die Zeit, die darin steckt. Es gibt Jahre, die gehen einfach nicht weiter. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, denke ich darüber nach, ob Arbeit wirklich das ist, was sie uns immer erzählt haben. Sicherheit. Struktur. Sinn. Ich bin vierundvierzig. Fast fünfundvierzig. Und wenn man zu lange aus dem alltäglichen Berufsleben verschwunden ist, wird man schnell übersehen. Zu alt für einen Neuanfang. Zu jung, um aufzugeben. Manchmal schreibe ich Bewerbungen, die nie beantwortet werden. Manchmal bekomme ich Absagen. Und manchmal schicke ich sie gar nicht erst ab. Aus Stolz vielleicht. Oder aus Müdigkeit. Ein Bus fährt vorbei. Hinter beschlagenen Scheiben sitzen Menschen, die vielleicht gerade von der Arbeit kommen. Ihre Gesichter wirken müde, leblos, wie ausgewaschen vom Tag. Sie schauen irgendwohin, aber sehen nichts. Kurz darauf verschwindet der Bus in der Kurve. Für einen Moment bleibt nur das Brummen des Motors zurück. Dann wieder Stille. Jeder hat seinen eigenen Kampf, den er still mit sich selbst austrägt.

Es gibt Tage, da denke ich an das, was hätte sein können. Nicht, weil ich etwas bedauere. Sondern weil ich verstehen will, wo die Weggabelungen oder Kreuzungen wirklich lagen. Früher dachte ich immer, Träume wären etwas, das man festhalten muss. Heute weiß ich, sie haben ihr eigenes Tempo. Wir träumen, bis das Leben uns einholt, und nennen das dann Erfahrung. Vielleicht ist das der Preis dafür, älter zu werden. Man erkennt, dass nichts verloren geht, aber vieles zu etwas anderem wird. Wünsche, die man zu lange mit sich trägt, werden schwer. Erst merkt man es kaum. Aber dann, mit jeder Erinnerung ein bisschen mehr. Irgendwann verändern sie sich. Sie werden zu Geschichten, die man sich selbst erzählt, um nicht zu vergessen, was man einmal wollte. Zu Sätzen, die man nicht mehr laut sagt, weil man längst weiß, dass sie nichts mehr ändern. Vielleicht auch, weil man nicht mehr die Stimme dafür hat. Manchmal spüre ich sie noch, meine alten Wünsche. Nachts, wenn alles still ist und der Kopf zu viel Platz hat. Dann riecht die Luft nach Benzin. Nach Papier. Nach Staub. Gerüche, die man nicht loswird, weil sie irgendwo tief in einem geblieben sind. Und während ich dann irgendwo sitze, frage ich mich, ob das noch Sehnsucht ist, dieses leise Ziehen, das nicht wehtut, aber bleibt oder nur der Versuch meiner Seele, endlich Frieden zu finden.

Was wäre gewesen, hätte ich mich anders entschieden? Früher vielleicht. Entschlossener. Lauter. Aber wer weiß schon, was richtig war? Vielleicht ist es wie mit dem Regen. Er fällt, wann er will, und hört auf, wenn niemand mehr hinsieht. Vielleicht ist das Leben genauso. Es passiert. Und während wir damit beschäftigt sind, es uns selbst irgendwie verständlich zu machen, zieht es einfach weiter. Nein. Die großen Wendepunkte gibt es nicht. Das wird mir immer klarer. Alles beginnt viel früher. Es sind die kleinen Dinge, die bleiben. Formen. Verändern. Ein Satz, den jemand beiläufig sagt. Das Geräusch von Schritten in einer leeren Halle. Der Blick eines Hundes, der nichts fragt. Der kleine Einkauf an einem Samstag, weil sonntags die Geschäfte geschlossen sind. Die Kartoffeln, mit denen man sich solche Mühe gegeben hat und die am Ende trotzdem nicht schmecken. Komisch. Aber in solchen Momenten verstehe ich, dass Träume nicht sterben. Sie werden nur leiser. Vielleicht war das immer ihr eigentlicher Zweck. Vielleicht gibt es Träume nur, damit wir nicht stehen bleiben. Damit wir uns an etwas festhalten, wenn alles andere sich verändert. Vielleicht geben sie uns Richtung, auch wenn sie uns nie wirklich irgendwohin führen. Vielleicht ist genau das ihre Aufgabe, uns lange genug hoffen zu lassen, bis wir müde werden vom Warten. Bis wir begreifen, dass das, was wir gesucht haben, gar nicht in der Bewegung liegt, sondern im Stillwerden danach. Vielleicht sollen sie uns nicht erfüllen, sondern begleiten. Wie ein leises Versprechen, das man irgendwann nicht mehr wörtlich nimmt, aber trotzdem nicht ganz vergisst. Und wenn sie schließlich verblassen, bleibt etwas anderes zurück. Kein Schmerz. Kein Verlust. Eher diese Art von Ruhe, die kommt, wenn man sich nicht mehr wehren muss. Wenn man nicht mehr warten will. Vielleicht war das der Sinn von allem, zu lernen, in der Ruhe Heimat zu finden, ohne das Gefühl zu bekommen, irgendetwas verpasst zu haben. Am Ende wartet nichts auf uns. Kein Ziel. Kein Versprechen. Nur die Stille. Und sie ist gnädiger, als man denkt. Vielleicht ging es nie darum, irgendwo anzukommen. Vielleicht war das Ziel einfach, nicht stehen zu bleiben, während man langsam verschwindet.

Die Geometrie der Zeit.

Wir messen, was wir nicht verstehen.

Und vielleicht ist die Zeit ja gar kein gerader Weg. Kein Strom, der uns irgendwohin führt. Vielleicht ist sie mehr wie ein Raum, der sich dehnt und zusammenzieht. Wie ein Atem, den man nicht kontrollieren kann. Die meisten Menschen glauben, sie würde vergehen, als könnte man sie verlieren, wenn man nicht aufpasst. Aber das stimmt nicht. Sie vergeht nicht. Sie bleibt. Wir sind es, die sich hindurchbewegen, wie Staub, der kurz im Licht schwebt, bevor er wieder verschwindet. Und wenn du genau hinsiehst, merkst du, dass sie überall ist. In den Linien deines Gesichts, das du jeden Tag im Spiegel siehst. In der Art, wie sich das Licht am Nachmittag verändert. In der Stille zwischen zwei Sätzen, wenn niemand mehr etwas zu sagen hat. Die Zeit lebt in diesen Momenten, sie atmet durch uns hindurch. Und während wir glauben, voranzukommen, hält sie uns längst in der Hand. Trotzdem denke ich oft, sie ist nachsichtiger, als wir glauben. Sie zerstört nicht. Sie verändert. Sie nimmt nichts mit Gewalt, sie nimmt nur das, was ohnehin gehen wollte. Erinnerungen. Stimmen. Gedanken. Und doch lässt sie Spuren zurück. Plötzlich ist da eine Melodie, die du wiedererkennst. Ein Geruch, der dich an etwas erinnert, das du längst vergessen hattest. Ja, ich glaube, so arbeitet sie. Still. Beständig. Ohne Eile. Ohne Druck. Auch wenn wir oft etwas anderes glauben.

Ich sitze am Fenster. Halte mit beiden Händen meine Tasse fest, als könnte ich die restliche Wärme speichern. Aber das kann ich nicht. Draußen hängt der Abend zwischen Grau und Gold. Es scheint fast, als hätte die Sonne vergessen, wohin sie gehört. Und irgendwie verstehe ich sie. Auf dem Fensterbrett steht eine alte Uhr. Ein Geschenk aus längst vergangenen Zeiten, von einem Menschen, der nicht mehr da ist. Sie hat einen Sprung im Glas. Noch tickt sie, aber unregelmäßig. Ich lächle, weil ich denke, dass sie ebenfalls einfach beschlossen hat, sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Da ist dieses Zittern des Sekundenzeigers. Dieses nervöse, kleine Zucken, das doch alles bedeutet. Früher hätte ich mich darüber geärgert, weil die Zeit dieser Uhr nicht so läuft, wie man es erwartet. Heute lasse ich sie einfach laufen. Nicht alles muss repariert werden. In der Küche steht noch ein Topf auf dem Herd. Das Wasser darin spiegelt das Licht des Fensters. Für einen Moment erkenne ich mein Gesicht darin. Blasser als früher. Aber irgendwie klarer. Ich erinnere mich an Tage, die länger waren. Oder waren sie nur voller, gefüllt mit Eindrücken, die geblieben sind? Ich weiß es nicht. Da war Lärm. Da waren Stimmen. Da war Bewegung. Jetzt? In diesem Augenblick ist es still. Nur das Ticken der Uhr, fast gleichmäßig und doch beruhigend. Die Zeit geht weiter, auch wenn ich stehen bleibe. Zurück am Fenster sehe ich, wie die Schatten sich über den Boden schieben. Alles ist in Bewegung, auch das, was stillsteht. Ich hebe die Hand, als könnte ich den letzten Lichtstreifen halten, bevor er verschwindet. Draußen lösen sich Blätter von den Eichen. Der Wind zieht sie von den Ästen. Ohne Hast. Ohne Hektik. Vielleicht ist es nur der Moment, in dem sich etwas löst, sich dreht und lautlos zu Boden fällt. Auch das ist Zeit. Nicht das Ticken der Uhr. Nicht das, was wir zu messen versuchen. Sondern das Loslassen.

Ein Schluck Kaffee. Draußen fährt ein Auto über die Straße, trifft eine Pfütze, das Wasser spritzt in alle Richtungen. Zurück bleiben Wellen, die langsam auslaufen. Ein Teil des Wassers fließt in eine andere Ecke, ein Teil kehrt zurück. Und nichts ist mehr, wie es vorher war. So funktioniert Zeit. Nicht wie ein Strom, der fließt, sondern wie Bewegung, die Form verändert. Verlagerung. Ein Verschieben von dem, was war, zu dem, was sein wird. Und trotzdem zählen, messen, vergleichen wir. Ständig im Glauben Kontrolle zu haben, wenn wir dem Unendlichen Zahlen geben. Dabei haben wir keine Ahnung, wovon wir sprechen. Wir haben Maßeinheiten erschaffen, um uns selbst zu beruhigen. Sekunden. Meter. Kilogramm. Alles nur Worte, um uns in einem Universum zu orientieren, das wir nicht begreifen können. Wir sagen eine Sekunde, wenn sich die Erde ein Stück weiterdreht. Ein Jahr, wenn sie ihre Umlaufbahn vollendet hat. Und doch das sind nur Etiketten. Spuren in Sand geschrieben, bevor die Wellen kommen. Vielleicht ist Zeit nichts, das vergeht. Vielleicht ist sie die Veränderung selbst. Etwas, das nicht an uns vorbeizieht, sondern durch uns hindurch. Wir sind nicht außerhalb der Zeit, wir sind ihre Bewegung, ihre Dehnung, ihr Atem.

Wissenschaftlich, ja, kann man sie messen. Aber selbst dort bleibt sie relativ. So wie Einstein es mal sagte, sie ist nicht fest. Sie dehnt sich, krümmt sich, verlangsamt sich. Für den, der stillsteht, vergeht sie anders als für den, der sich schnell bewegt. Und vielleicht ist in gewisser Weise alles gleichzeitig. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Alles Schichten derselben Landschaft. Nur unser Bewusstsein geht hindurch und nennt das Bewegung. Vielleicht ist es das, was Leben wirklich ist, ein Riss im Gewebe der Zeit, durch den das Bewusstsein hindurchsieht. Für einen Augenblick. Ich weiß, es klingt verrückt, aber manchmal stelle ich mir vor, dass alles, was war und sein wird, längst da ist. Dass nichts entsteht und nichts vergeht, sondern nur aufleuchtet, für den Bruchteil eines Moments. Und dass wir, während wir uns an Sekunden festhalten, glauben, etwas verstanden zu haben. Dabei sind wir nur Zeugen einer Illusion, die uns ruhig schlafen lässt. Vielleicht ist Zeit kein Maß, sondern ein Spiegel. Und was wir darin sehen, sind nicht die Jahre, die vergehen sondern immer die Veränderungen in uns, die wir nicht wahrhaben wollen.

Der Kaffee ist nur noch lauwarm. Die Dunkelheit liegt mittlerweile schwer über den Dächern der Vorstadtsiedlung. Draußen hat der Regen begonnen. Gleichmäßig, als würde die Nacht selbst atmen. Talko liegt neben mir, hebt den Kopf, seine Augen folgen mir, während ich den letzten Schluck trinke. Er steht auf, kommt näher, stupst mit der Nase gegen mein Bein. Ein Zeichen, das vielleicht mehr sagt als Worte. Vielleicht will er raus. Vielleicht merkt er nur, dass ich zu lange stillgesessen habe. Ich nehme die Leine und vergesse die Jacke. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss. Die Luft draußen ist kalt. Schärfer, als sie es noch vor ein paar Wochen war. Der Sommer ist vorbei. Da ist kein Wind mehr, der Wärme trägt. Nur Regen, der fällt. Gleichgültig als wüsste er, dass alles irgendwann ausgelöscht wird. Selbst die Erinnerung daran, wie es einmal roch, wenn die Sonne die Straßen trocknete. Ich gehe langsam, höre das Tropfen auf dem Asphalt. Talko läuft voraus, bleibt stehen, dreht sich um, prüft, ob ich nachkomme. Ich tue es. Natürlich. Und vielleicht tue ich das schon mein ganzes Leben. Einfach folgen. Schritt für Schritt, durch das, was Zeit hinterlässt. Ich denke an die Tage, die hell waren. An Nachmittage, die sich wie Versprechen anfühlten. Aber sie sind vorbei, ohne dass ich es gemerkt hätte. Vielleicht ist das der wahre Trick der Zeit. Wie gesagt, sie nimmt dir nichts mit Gewalt. Sie lässt dich glauben, du hättest noch genug davon. Und während du rechnest, misst, planst, zieht sie leise Linien um dich herum, verschiebt das Licht auf den Dingen und eines Tages erkennst du die Welt nicht mehr wieder, obwohl du nie weg warst.

Wir biegen in die kleine Straße ein. Wasser sammelt sich in Rinnen, die Laternen spiegeln sich darin wie Erinnerungen, die sich weigern, endgültig zu verschwinden. Ich sehe wieder mein Spiegelbild. Diesmal verzerrt. Flüchtig, im Wasser eines Bordsteins. Nichts hält lange. Nicht der Regen. Nicht das Licht. Nicht wir. Man könnte meinen, dass alles vergeht, damit Bewegung bleibt. Der Sommer musste gehen, damit der Herbst Platz findet. Etwas Altes stirbt, damit etwas anderes atmen kann. Vielleicht hat die Zeit gar kein Ziel. Vielleicht ist sie einfach das, was bleibt, wenn alles andere aufhört, sich zu wehren.

Ich bleibe kurz stehen, sehe in den Himmel, wo kein Stern zu sehen ist. Nur Wolken, schwer und träge. Talko wartet, blickt mich an, und in seinem Blick liegt diese einfache Wahrheit, die Menschen selten begreifen. Das Leben ist keine Abfolge von Momenten. Sie ist eine einzige, endlose Gegenwart, die wir zu zerteilen versuchen, weil wir Angst vor ihrer Tiefe haben. Ich streiche ihm über den Kopf, gehe weiter. Der Regen wird stärker, die Straße glänzt. Und während wir durch die Dunkelheit laufen, denke ich immer noch über die Zeit nach. Sie ist das, was bleibt. Sie trägt uns, verändert uns, formt uns. Und wenn der Morgen kommt, wird alles ein wenig anders aussehen, ohne dass jemand sagen könnte, warum.

Bis es still wird.

Und nichts mehr übrig ist als Staub.

Wir sind nur Geschichten, die sich selbst erzählen, bis sie verstummen. Zwischen Geburt und Tod ein paar Jahre, in denen wir glauben, irgendetwas zu verstehen. In den Fenstern spiegelt sich das Licht der Bildschirme, Gesichter leuchten kurz auf, verschwinden wieder. Menschen reden, ohne zuzuhören. Lachen, ohne Freude. Und irgendwo, mitten in all dem, sitzt jemand an einem Küchentisch, eine Tasse halbvoll und starrt auf die Wand gegenüber, als würde sie gleich etwas sagen. Vielleicht tut sie das auch. Vielleicht erzählt sie von all den Dingen, die wir längst vergessen haben. Aber wir hören nicht zu. Wir schreiben, lieben, verlieren. Machen Fehler, nennen es Erfahrung. Und jedes Mal, wenn wir glauben, es verstanden zu haben, zieht das Leben einfach weiter. Wortlos. Unbeeindruckt. Auf Fotos halten wir Gesichter fest, die wir irgendwann kaum noch erkennen. Stimmen klingen in der Erinnerung, aber sie bleiben nicht dieselben. Alles verblasst. Langsam. Wie Straßenkreide auf nassem Asphalt. Zurück bleibt nur das Knistern eines Moments, den man fast berühren konnte, bevor er sich auflöste. Vielleicht sind wir wirklich nur Echos. Wandernde Schatten auf einer Leinwand aus Zeit. Und manchmal, spät in der Nacht, wenn die Welt den Atem anhält und selbst die Uhr aufhört zu ticken, kann man sie hören. Leise, gebrochene Melodien, die von uns erzählen. Nicht laut. Nicht klar. Nur gerade genug, um zu wissen, dass wir einmal da waren.

Vielleicht geht es nicht darum, etwas zu verstehen. Vielleicht ist alles nur Bewegung. Das Leben, ein Fluss, der uns mitnimmt, egal, wie sehr wir uns an den Ufern festklammern. Und dann nennen wir es Sinn, wenn wir glauben, eine Richtung zu erkennen. Doch am Ende ist es auch nur Strömung. Die Tage kommen. Sie gehen. Ohne Abschied. Morgens riecht die Luft nach Regen. Mittags nach Beton. Abends nach nichts. Und zwischen all dem verschieben sich die Schatten auf den Wänden. Langsam. Als wollten sie uns zeigen, wie die Zeit vergeht, ohne sich zu entschuldigen. Manchmal denke ich, das Leben besteht aus lauter Wiederholungen. Denselben Fragen, denselben Fehlern, denselben stillen Momenten, in denen niemand hinsieht. Wir suchen nach Bedeutung in Dingen, die keine haben, und übersehen das, was uns still begleitet. Das Tropfen des Wassers im Waschbecken. Das Flackern einer Lampe. Das Atmen eines anderen Menschen. Es sind die kleinsten Geräusche, die uns verraten, dass wir noch hier sind. Und vielleicht ist das alles, was bleibt. Die Gewissheit, dass wir einmal existierten, für einen Moment, zwischen Licht und Dunkel. Danach wird es wieder still. Und irgendwer, irgendwann, erzählt unsere Geschichte weiter, ohne zu wissen, dass es eigentlich seine eigene ist.

Ich glaube, wir haben verlernt, still zu sein. Wir füllen jede Sekunde mit etwas, das uns ablenkt. Geräusche. Gesichter. Worte, die nichts bedeuten. Wir nennen es Verbindung, aber die Wahrheit ist, wir fürchten uns vor der Leere. Vor dem Moment, in dem nichts mehr antwortet. In dem man sich selbst hört. Ohne Filter. Ohne Kulisse. Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns dauernd bewegen, dauernd reden, dauernd etwas festhalten müssen. Weil Stillstand uns immer an das erinnert, was wir verloren haben. Und vielleicht bin ich deshalb immer unterwegs. Getrieben. Ja, ich hab Fehler gemacht. Große und kleine. Manche haben leise geflüstert. Andere haben alles zum Einsturz gebracht. Ich hab geglaubt, man könne Menschen festhalten, wenn man sie nur genug liebt. Aber Liebe ist kein Griff. Kein Werkzeug. Sie ist ein Wind, der weht, wo er will. Ich habe zu spät verstanden, dass wir oft nur das wiederholen, was uns zerstört, weil es vertraut klingt. Und manchmal erkennst du erst, wer du wirklich bist, wenn du in den Trümmern stehst und siehst, dass da nichts mehr zu retten ist. Wir klammern uns an Dinge, die keinen Wert haben. An Namen, an Erinnerungen, an alte Nachrichten, als könnten sie irgendetwas beweisen. Doch alles, was bleibt, sind Fetzen. Bilder. Stimmen. Schatten. Und irgendwann merkst du, dass du dich an nichts mehr erinnerst, ohne dabei etwas zu verlieren. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass das Leben kein Kreis und keine Linie ist. Es ist nur ein langsames Verblassen. Eine Bewegung, die so gleichgültig ist, dass man sie kaum spürt. Und irgendwo dazwischen versuchen wir, Bedeutung zu finden, wo keine ist. Vielleicht ist das der wahre Irrtum, zu glauben, das Leben müsse etwas erklären Oder einen Sinn haben. Das tut es nicht. Das hat es nicht. Es passiert einfach. Und wenn es still wird, wenn das Rauschen der Welt endlich verstummt, dann bleibt vielleicht nur ein leiser Gedanke, der durchs Dunkel treibt. Wir waren hier. Und dass es, für einen kurzen Moment, genug war.

Ich fahre jetzt den Rechner runter. Das Licht des Bildschirms verblasst langsam. Das Smartphone liegt daneben. Es bleibt stumm. Keine Nachrichten. Keine Stimmen. Nur das schwache Spiegeln meines Gesichts im schwarzen Glas. Ich ziehe die alten Stiefel an, die an den Nähten aufgeplatzt sind. Das sie nicht mehr lange halten, ist mir klar. Aber manchmal habe ich das Gefühl, sie kennen die Wege besser als ich. Draußen hängt der Tag müde zwischen Regen und Sonne, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er noch leben will. Die Straße glänzt feucht, der Wind riecht nach altem Laub. Johann sagte mal zu mir, man solle alte Zöpfe abschneiden. Ich denke, ich habe mehr davon, als mir lieb ist. Menschen. Erinnerungen. Ideen. All die Dinge, die ich zu lange festgehalten habe, als könnten sie mich retten. Aber nichts rettet dich. Du lernst nur, das Gewicht zu tragen, bis du es nicht mehr spürst. Ich glaube, ein Teil von mir ist heute gestorben. Nicht mit Drama, nicht mit Schmerz. Einfach so. Leise, wie eine Tür, die zufällt, ohne dass man sich noch einmal umdreht. Ja. Der Tag geht zu Ende. Und das, was von mir übrig war, auch. Aber vielleicht ist das in Ordnung. Vielleicht geht es nicht darum, etwas festzuhalten, sondern darum, loszulassen, bevor man selbst zu einer Erinnerung wird. Ich gehe raus. Weiter. Schritt für Schritt, durch das Zwielicht, das über allem liegt. Kein Ziel, kein Plan. Nur Bewegung. Und irgendwo in der Ferne, hinter den Wolken, flackert ein Rest von Licht. So schwach, dass man nicht weiß, ob es bleibt oder schon vergeht.

Oktober.

Alles, was bleibt, ist der Augenblick.


Oktober. Er ist da. Er kam fast unscheinbar. Kein Feuerwerk. Kein lauter Auftakt. Nur ein sanftes Kippen der Tage. Leise, fast schüchtern. Man wacht auf und merkt, dass die Luft kühler ist, die Jacke am Haken plötzlich wieder Sinn hat. Auf den Straßen liegen Kastanien. Halb zertreten und doch glänzend wie Münzen, die niemand mehr aufhebt. Ein älterer Mann fegt das Laub von seiner Einfahrt, als würde er den Sommer endgültig ausradieren. Manchmal denke ich, der Oktober ist dieser Monat, der einem zeigt, wie schnell sich Dinge verändern, ohne dass man es wirklich bemerkt. Der Bus kommt wie immer zur gleichen Zeit. Der Nachbar trägt den Müll raus. Die Welt dreht sich weiter. Nur das Licht fällt anders. Tiefer, schräger, manchmal so, als wolle es die Wahrheit hervorholen, die man sonst übersieht. Und plötzlich merkt man, dass es genau diese leisen Bewegungen sind, die das Leben verändern.


Ich sitze am Schreibtisch. Vor mir ein Notizbuch. Daneben ein Stift, der nicht mehr schreibt. Ein Glas, in dem nur noch ein Rest Wasser steht. Abgestanden. Geschmacklos. Nichts davon hat Bedeutung und trotzdem bleibt mein Blick daran hängen. Vielleicht, weil das Leben manchmal genau so ist. Es erscheint bedeutungslos in seinen Details und doch nicht auszuhalten ohne sie. Draußen knallt eine Autotür, dumpf, endgültig. Eine Frau fährt mit ihrem Fahrrad über die Straße. Talko seufzt unter dem Tisch, als wüsste er mehr als ich. Es sind immer Kleinigkeiten und doch haben sie Gewicht. Das Leben besteht nicht nur aus Höhepunkten. Wir tun nur oftmals so. Oder wir zeigen nur diese. Es kommt aufs Gleiche hinaus. Und dann warten wir auf diese Momente, die alles erklären, die uns retten sollen. Aber vielleicht ist das eine Lüge. Vielleicht sind diese großen Dinge nur das, was zwischen den Momenten passiert. Vielleicht ist es der Staub auf dem Tisch, das Knistern eines Blattes unter dem Schuh. Vielleicht sind es diese Dinge, die uns wirklich irgendwie verändern. Der Oktober zieht uns den Sommer aus den Händen, ohne uns zu fragen, und gibt uns dafür nichts als kürzere Tage und längere Nächte. Veränderung fragt nie, ob wir bereit sind. Sie passiert einfach. Und vielleicht ist genau das der Punkt, an dem das Leben anfängt.


Vielleicht merke ich es gerade an mir selbst. Ich stehe jeden Morgen auf, noch bevor es hell wird, gehe mit Talko über alte Feldwege. Der Boden ist feucht, das Gras kalt, meine Gedanken lauter als der Wind. Ich zähle Schritte, aber sie zählen nicht wirklich. Eigentlich sind sie vollkommen belanglos. Und manchmal denke ich, dass ich mich so bewege, um nicht stillzustehen. Ich bin 44 Jahre alt und habe oft immer noch das Gefühl, nirgends wirklich angekommen zu sein. Kein Ort, an dem man sagt: hier bin ich richtig. Eher ein Zwischenraum, ein Warten, ein Dazwischen. Ich tue, was ich kann, ich arbeite, ich schreibe, ich laufe, ich halte durch. Aber es bleibt dieses Gefühl, dass sich das Leben nicht festhalten lässt, dass es durch die Finger rinnt wie Wasser aus einem Glas, das schon fast leer ist. Jammern auf hohem Niveau. Es sind keine großen Dramen, nur diese kleinen Dinge, die sich stapeln. Mein Blick in den Spiegel am frühen Morgen, der nichts Neues zeigt. Der Schritt in einen Raum, in dem die Stille schwer an den Wänden hängt. Der Gedanke, dass man längst hätte weiter sein sollen. 


Ich denke schon, es ist dieser Gedanke, der mich immer wieder einholt und langsam begreife ich, dass nicht die großen Sprünge zählen, sondern die kleinen Dinge, die man selbst jeden Tag verändert. Oder verändern kann. Es braucht im eigenen Leben keine Revolution, keinen ständigen Neuanfang über Nacht, sondern winzige Handgriffe, die am Ende aber doch schwerer sind, als sie aussehen.

Ehrlich zu sich selbst sein. Klingt eigentlich ganz einfach. Man schaut in den Spiegel, nickt sich zu, sagt sich die Wahrheit. Aber in echt ist es wie ein Messer, das langsam angesetzt wird. Es schneidet durch die Geschichten, die man sich über Jahre erzählt hat. Und das kann weh tun.

Loslassen. Ob Menschen, alte Träume oder Vorstellungen. Jeder sagt, man solle loslassen, als sei es ein Knopfdruck. Und irgendwie habe ich das selbst immer getan. Doch in Wahrheit reißt es einen innerlich auseinander. Man verliert zuerst ein Stück seiner Identität, bevor man merkt, dass es nur Ballast war.

Nein sagen. Nur zwei Buchstaben, aber sie haben das Gewicht von tausend. Nein sagen heißt, Grenzen setzen. Heißt, vielleicht jemanden zu enttäuschen. Heißt, sich selbst nicht mehr ausverkaufen.

Vergeben. Nicht irgendwelchen anderen Menschen. Sondern sich selbst. Ich glaube, das ist die härteste Übung. Man schaut auf sein Leben und erkennt Fehler, Schwächen, Dinge, die man anders machen wollte aber nie getan hat. Und dann sagt man trotzdem: es ist okay.

Sich wirklich entscheiden. Wie oft habe ich das schon aufgeschoben, weil eine klare Entscheidung eben auch bedeutet, dass alle anderen Wege sterben. Aber am Ende frisst jede nicht getroffene Entscheidung Zeit, sie frisst Leben.

Der Schreibtisch liegt hinter mir. Ich stehe draußen. Oktoberluft auf der Haut. Klar. Kühl. Wie ein Versprechen, das keiner laut ausspricht. Die Jacke macht Sinn. Über mir hängen Wolken wie schwere Tücher, darunter ein schmaler Streifen Licht, der alles für einen Moment weich macht. Auf den Wegen liegt das Laub der Eichen, der Kastanien. Aufgeweicht. Zerrissen. Und doch hat jedes noch seine Form. Ich gehe weiter, höre Talkos Schritte neben meinen, das leise Rascheln, den Wind, der durch die Hecken zieht. Alles ist so einfach und so schwer zugleich. Nichts davon gehört mir und doch ist es alles, was ich habe. Oktober. Herbst. Er zeigt mir, dass Dinge fallen dürfen, dass Verluste nicht immer ein Ende sind, sondern Platz schaffen. Dieser Monat erinnert mich daran, dass das Leben kein Ziel ist, sondern ein Weg. Und vielleicht liegt darin mehr Trost, als ich mir eingestehen will. Ich muss nicht angekommen sein, wenn Leben bedeutet, unterwegs zu sein.

Der letzte Vorhang.

Aufgeben statt weiterspielen.

„Je mehr man über sich selbst und das, was man will, weiß, desto weniger lässt man an sich ran“, sagt Bill Murray in Lost in Translation. Ich schaue mich um. Das Licht im Raum ist gedämpft, die Luft still, als hielte sie etwas zurück. Zeit tropft von den Rändern, unbemerkt, fast so, als hätte sie beschlossen, in andere Richtungen zu verschwinden. Schritte verhallen. Türen schließen sich. Tage kommen und gehen, werfen Schatten über den Boden, die sich nicht festhalten lassen. Vielleicht bleibt am Ende nur das übrig, was unausgesprochen bleibt. Ein Rest von Nähe. Eine Erinnerung. Ein Fetzen von dem, was einmal groß erschien. Und vielleicht sind es die Rollen, die wir dabei verlieren oder jene, die wir nie hätten annehmen sollen. Masken, die irgendwann zu schwer werden. Sätze, die nicht die eigenen waren. Manchmal genügt ein Atemzug, um zu spüren, dass etwas zu Ende geht: ein Raum, ein Blick, ein stilles Nicken. Die Welt dreht sich weiter, während irgendwo ein Vorhang zum letzten Mal fällt…

Den Film habe ich nie gesehen. Zugegeben. Aber ich habe das Zitat irgendwo aufgeschnappt und länger darüber nachgedacht. Es klang im ersten Augenblick kalt, fast schon abweisend. Doch vielleicht meint Murray gar nicht Kälte, sondern Klarheit. Vielleicht bedeutet es, dass je genauer ich weiß, was ich will, desto weniger lasse ich die Dinge an mich ran, die mich von mir wegtragen. Erwartungen, Menschen, Geschichten, in denen ich nur eine Nebenrolle war.

Früher habe ich das verwechselt. Ich hielt Grenzen für Härte. Heute denke ich viel mehr, es sind Türen, die ich leise schließe, damit es in mir endlich still genug wird, meine eigene Stimme zu hören. Und wenn ich weiter darüber nachdenke, stelle ich fest: Ja, ich bin geflohen. Ich habe Dinge verbrannt, Ideen, Anläufe, ganze Räume. Wie ein Beweis, dass etwas passiert. Rauch statt Arbeit.

Das war immer ein schöner Trick, um nicht dorthin gehen zu müssen, wo es wehtut. Dahin, wo Entscheidungen fällig sind. Dahin, wo Gespräche warten, die ich vermeiden wollte. Dahin, wo die Aufgaben liegen, die niemand für mich erledigt. Stattdessen habe ich Rollen gewählt. Kostüme, die nach außen funktionieren und innen hohl sind. Man trägt sie, weil man gesehen werden will, weil man glaubt, sonst zu verschwinden. Doch langsam merke ich mehr und mehr, wie schwer sie geworden sind. Wie sie mir den Atem nehmen.

Jetzt, so langsam, je mehr ich über mich weiß, desto deutlicher spüre ich, was nicht mehr an mich darf. Es sind die geliehenen Sätze, die gelernten Gesten, die Lügen in freundlichen Farben. Und wenn das wegfällt, bleibt die Arbeit übrig: all die Masken fallen zu lassen. Ohne Drama. Ohne Pose. Man darf aufhören zu spielen, auch wenn noch Licht auf der Bühne liegt. Man darf aufstehen. Runter von den Brettern, die eben nicht die Welt bedeuten. Runtergehen in den Flur, wo das normale Licht brennt. Dorthin, wo keine Musik, kein Text, kein Publikum zu finden ist. Nur Schritte. Nur Atem. Und dann kommt dieses kleine, unspektakuläre Nicken vor dem eigenen Spiegel. Ja. Aufgeben statt weiterspielen. Das ist in Ordnung. Das ist kein Scheitern. Keine Niederlage. Sondern ein Beginn.

Vielleicht war auch die Seite nachmittage.de auch nur wieder eine dieser Rollen. Ein weiteres Projekt, das ich verbrannt habe. Ich habe gemerkt, dass ich mich da wieder in etwas hineinzwang, das nicht wirklich zu mir gehörte. Eine Fassade, die schön aussah, aber schwer zu tragen war. Wieder ein Kostüm. Wieder ein Spiel, das nicht meins war. Ich wollte etwas sein, etwas darstellen, das ich am Ende nicht ausfüllen konnte.

Aber das muss ich nicht. Es reicht, einfach zu tun, was mir Spaß macht. Schreiben, wenn ein Gedanke länger bleibt. Fotografieren, wenn ein Bild mir zufällig begegnet. Ein Video drehen, weil es Freude macht, nicht weil es Pflicht ist. Ohne Themen, ohne festen Rahmen. Ohne den Druck, dass daraus etwas Großes werden muss. Ich denke, so werde ich es zukünftig machen. Unter meinem Namen. Dem Namen, den meine Eltern mir geschenkt haben. Ohne Masken. Ohne Spiel. Einfach so, wie ich bin. Vielleicht sind es Geschichten, die ich mir ausdenke. Vielleicht ein Gedicht, das mir auf einem Spaziergang einfällt. Vielleicht gar nichts davon. Aber es wird echt sein. Kein Programm. Kein Kalender. Keine Erwartungen. Nur Worte, Bilder, Sätze, wenn sie entstehen wollen.

Es heißt ja oft, man dürfe nie aufgeben. Doch vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht bedeutet Aufgeben manchmal, endlich weiterzugehen. Rollen loszulassen, die nie die eigenen waren. Projekte oder Ideen, die nur Maske und nicht Wahrheit waren. Aber auch Menschen. Beziehungen enden. Jobs, in die man Jahre gesteckt hat, verlieren vielleicht einfach ihre Bedeutung. Freunde, von denen man dachte, sie wären für immer, verschwinden ohne ein Wort. Früher hat mich das verunsichert. Ich fand es beschissen und habe geglaubt, man könne Dinge festhalten, wenn man nur genug investiert. Oder indem man nur noch stärker eine Rolle spielt. Aber all das stimmt nicht. So verliert man sich am schnellsten selbst. Fakt ist: Wer oder was bleiben will, bleibt. Und was geht, geht. Heute sage ich mir öfter: Niemand muss bleiben. Und das gilt auch für mich. Ich muss und will nicht mehr an Rollen, Menschen, Orten, Projekten, Ideen, Träumen oder Umständen hängen, die mir dann doch nicht guttun. Heute denke ich, aufgeben statt weiterspielen. Und wie gesagt, das ist kein Scheitern. Kein Ende. Sondern der Beginn von etwas Neuem. Von etwas Echtem.

Kein Donnerschlag.

Nur Staub auf der Haut.

Der Kaffee auf dem Tisch ist halb leer, längst kalt, doch er gehört dazu wie das Schweigen zwischen zwei Sätzen. Draußen zieht die Welt ihre Bahnen, als wäre alles längst entschieden. Sterne stürzen vom Nachthimmel, ohne dass jemand es bemerkt. Vielleicht ist unser Leben nicht mehr als ein kurzer Wimpernschlag im Dunkel, ein Atemzug, der sich verliert. Und trotzdem bleibt da dieses Drängen, die Nähe einer Haut, das Gewicht einer Hand. Manchmal reicht ein Blick, um alles infrage zu stellen. Ein Raum, zwei Menschen, ein Herzschlag zu viel. Die Zeit hält nicht an, aber für einen Moment tut sie so, als könnte sie es…

Manchmal meint man es, aber die Welt ändert sich nicht laut. Sie tut es leise. Ein Schatten verschiebt sich. Ein Blick dauert länger als er sollte. Eine Tür fällt ins Schloss. Und plötzlich bist du nicht mehr der, der du gestern warst. Veränderungen kommen nicht wie Stürme. Sie kommen wie Staub, der sich unbemerkt auf deine Haut legt, bis du merkst, dass du eine andere Gestalt angenommen hast. Ende und Anfang sind kein Gegensatz. Sie sind das gleiche Gesicht im Spiegel. Nur leicht anders. Man verliert etwas, das man für unverrückbar hielt und findet sich in einer neuen Ordnung wieder, die längst auf dich gewartet hat. Vielleicht ist das Leben nichts weiter als ein ständiges Verlernen, ein Auflösen in dem, was bleibt. Und wenn man Glück hat, ist da jemand, der still neben einem sitzt. Jemand, der den Kaffee nicht trinkt, aber versteht, warum er kalt werden durfte.

Man sagt, Kafka habe einmal geschrieben, das Leben sei ein Maskenball, und er schäme sich, ohne Maske erschienen zu sein. Vielleicht stimmt das. Vielleicht auch nicht. Egal. Ich verstehe das. Doch bei mir ist es anders. Ich habe fast nie ohne Maske am Leben teilgenommen. Ich habe sie gewählt. Immer. Keine einzige wurde mir aufgezwungen. Ich trug sie wie eine zweite Haut. Aus Angst. Aus Schwäche. Aus dem Wunsch, gesehen zu werden. Und doch führten sie mich weg von dem, der ich wirklich bin. Vielleicht war ihr einziger Sinn, mich zu schützen. Nicht, weil ich mich nicht ertrug, sondern weil ich Angst davor hatte, nicht genug zu sein. Nur selten gab es Ausnahmen. Zwei, vielleicht drei Menschen, vor denen ich sein konnte, wer ich wirklich bin. Bei ihnen durfte ich lachen, ohne den Gedanken zu tragen, was dieses Lachen kosten könnte. Ohne Angst haben zu müssen, dass es mir wieder genommen wird. Sie gehören zu den Besten meines Lebens.

Ende September. Der Herbst nimmt dem Sommer das Leben. Nicht auf einmal, sondern in kleinen Zügen. Erst die Nächte, die kühler werden. Dann das Licht, das nicht mehr warm, sondern scharf durch die Bäume fällt. Am Ende sind es die Blätter, die fallen. Eines nach dem anderen, bis der Sommer nur noch in der Erinnerung weiterlebt. Und man beginnt zu sortieren, was bleibt. Momente in der Heide, das trockene Gras unter den Füßen, die Luft, die nach Erde roch, der Regen am Schafstall. Wege zwischen den Bruchhauser Steinen, leicht und hell, als würde alles von selbst getragen. Gespräche, die ohne Gewicht waren und gerade deshalb blieben. Ein Lächeln, das nicht gesucht werden musste. Worte, die keinen Zweck hatten, außer da zu sein. Und Kalle, der kleine Deutsch-Jagdterrier, der wie ein Wächter immer wieder vorauslief, verschwand, zurückkam, als wollte er sagen: Hier ist es gut. Zufällige Berührungen, beiläufig, fast unscheinbar und doch das, was im Gedächtnis Wurzeln schlägt. Vielleicht ist es so, dass die schönsten Augenblicke immer jene sind, in denen keine Maske nötig ist. In denen man nicht nachdenkt, nicht spielt, sondern einfach ist. Echt. So schlicht, dass selbst ein ausgestreckter Mittelfinger Teil der Nähe wird. Ein Scherz und zugleich ein Versprechen.

Und jetzt, da der Herbst das grüne Laub von den Ästen zieht und der Sommer in ihnen stirbt, versteht man, dass Wert nichts mit den Augen der anderen zu tun hat. Man muss nichts leisten, um zu gefallen. Man muss nichts vortäuschen. Es geschieht von selbst, wenn man sich zeigt, wie man ist. Und wer bleibt, bleibt deshalb. Die, die gehen, waren nie wirklich Teil von einem. Sie hielten sich nur an den Masken fest.

Der Kaffee auf dem Tisch ist längst leer, die Tasse kalt. Und doch erzählt er von dem, was bleibt, wenn alles andere vergeht. Wie ein Beweis dafür, dass die Zeit nicht anzuhalten ist. Ich will keine Masken mehr tragen. Nicht jetzt, nicht später. Aber Masken fallen nicht in einem Augenblick. Sie kleben, weil man sie zu lange getragen hat. Veränderung kommt nicht wie ein Donnerschlag. Sie kommt leise, fast unbemerkt. Ein Gedanke, der anders klingt. Ein Satz, den man nicht mehr glaubt. Ein neuer, der sich langsam über den alten legt. Was so einfach scheint, wird schwer, wenn man merkt, wie tief die alten Überzeugungen in einem wurzeln. Sie halten fest, wie Ketten, die niemand angelegt hat außer man selbst. Und doch lässt sich etwas lösen. Schritt für Schritt. Man legt ab, was nicht mehr zu einem gehört. Man schafft neue Sätze, neue Wahrheiten. Sie brauchen Zeit, bis sie Teil werden von dem, der man ist. Vielleicht ist das der Weg. Langsam, unbeholfen, schmerzhaft und zugleich notwendig. Ein Blick, ein Atemzug, eine Geste, die andeutet, dass Veränderung möglich ist.

Und vielleicht genügt genau das, um zu beginnen.

Egal, wie spät es ist.

Wenn Sommer geht.

Ein Weg zu den Steinen.

Der Sommer zieht vorbei. Die alten Fachwerkfassaden lehnen sich dicht aneinander, schwarz und weiß wie ein Gedicht, das niemand je zu Ende geschrieben hat. Auf den Pflastersteinen liegt das erste welke Laub. Man bemerkt es kaum, und doch erzählen die Blätter, dass diese Jahreszeit vergeht. Im Wind liegt der Geruch von feuchtem Holz, von einer Kühle, die bleiben wird. Auf einer Mauer streckt sich eine Katze, träge, als sei auch sie ein Teil dieser Müdigkeit. Sie hebt kurz den Kopf, als jemand vorbei geht und legt ihn unbeeindruckt wieder ab. Am Ende des Augusts sortiert man, was von den Wochen übrig ist. Manche Bilder verblassen schnell, andere öffnet man immer wieder, wie kleine Schachteln voller Licht. Ob der Sommer gut oder schlecht war, spielt keine Rolle mehr. Wichtig ist nur, was bleibt. Die Abende, die man nicht vergessen will. Das Lachen, das man aufbewahrt. Die kleinen Stunden, die wärmen, wenn die Tage dunkel werden. Vielleicht ist es ja das Beste, die letzten Tage des Sommers mit Momenten zu füllen, die genau das tragen. Damit man sie hervorkramen kann, wenn der Himmel dunkelgrau ist und der Wind kälter durch die Gassen zieht.

Wir steigen ins Auto. Eine knappe Stunde Fahrt liegt vor uns. Genug Zeit, um zu reden, während die Straßen sich durch Felder und kleine Orte ziehen. Noch bevor wir den Ort verlassen, halten wir an einer Bäckerei. Drinnen riecht es nach frischem Brot, nach Kaffee und süßem Gebäck. Ein paar Brötchen, frisch geschmiert und in Papier gewickelt, wandern in die Tüte, dann in den Rucksack. Nichts Besonderes, doch genau das Richtige für diesen Tag. Der Himmel wirkt, als wolle er sich öffnen. Graue Schleier hängen tief, schwer und fast unbeweglich über den Dächern. Doch an diesem Tag reißen sie nicht. Er bleibt geschlossen, als hielte er den Regen zurück. Die Landschaft zieht vorbei, erst sanft, dann rauer, bis in der Ferne die Konturen der Bruchhauser Steine auftauchen. Ein Ort, der wirkt, als sei er schon immer dort gewesen, gleichgültig gegenüber allem, was vergeht.

Am Parkplatz vor dem Info-Center liegt eine eigentümliche Ruhe. Nur wenige Autos stehen in der Reihe. Als die Klappe des Kofferraums aufgeht, springt Kalle, der Deutsch-Jagdterrier, sofort hinaus. Er landet, schüttelt sich und beginnt, die Umgebung in Besitz zu nehmen. Er schnuppert an Büschen, verschwindet halb in einem Strauch, hebt die Nase und atmet die Luft, als wollte er sie ganz für sich beanspruchen. Nach Sekunden ist klar, dass dieser Ort jetzt auch zu seinem Revier gehört. Ich muss lachen. Wir nehmen uns Zeit, schnüren die Schuhe fest, ziehen die Rucksäcke zurecht. Vor dem Info-Center hängt der Geruch von Wald und trockener Erde. Drinnen kaufen wir die Tickets. Der Weg beginnt harmlos, zwischen Bäumen, die dicht stehen und deren Kronen den Himmel fast verschließen. Es riecht nach Moos und Pilzen, nach einer Wärme, die noch vom Sommer erzählt. Unter den Schuhen knirscht feiner Kies, leise, gleichmäßig und irgendwie schön. Kalle läuft an der Leine voraus, zieht mal nach links, mal nach rechts, als wolle er nichts verpassen. Für mich ist es der zweite Aufstieg in diesem Jahr. Und das allein sagt genug. Man kehrt nicht zurück, wenn ein Ort nichts in einem berührt. Die Steine dort oben sind mehr als nur Felsen. Sie stehen da, unbewegt, und doch erzählen sie Geschichten von Zeiten, die wir vergessen haben, von einer Welt, die ohne uns weitergeht. Ich glaube, wer dafür empfänglich ist, der findet hier etwas, das bleibt.

Kalle.

Wie erwähnt, ich war in diesem Jahr schon hier. Allein. Es war ein Tag, an dem der Sommer in vollem Saft stand. Die Luft flimmerte, das Grün der Wälder leuchtete. Es gab kein Gespräch, niemand war neben mir. Nur meine und Talkos Schritte auf dem Kies, das gleichmäßige Atmen, das sich mit dem Summen der Insekten mischte. Ich erinnere mich an die Pausen, an das Wasser, das in der Flasche längst warm geworden war, und an die Ruhe, die sich in mir ausbreitete. Sie hatte nichts Einsames, sondern etwas Schönes, als würde mich dieser Ort aufnehmen, ohne etwas zu verlangen.

Jetzt, Ende August, ist es ein anderer Weg, obwohl es derselbe ist. Die Luft ist kühler, der Himmel schwerer, die Farben stumpfer. Das Grün, das im Juli noch überquoll, hat an Glanz verloren. Es ist, als hätte die Natur in wenigen Wochen ein Kapitel abgeschlossen, das man nicht zurückblättern kann. Neben mir eine vertraute Stimme, Gespräche, ein Hund, der manchmal ungeduldig an der Leine zieht. Es ist ein anderes Gehen, lauter und trotzdem mit derselben Ahnung, dass auch dieser Tag sich in Erinnerung verwandeln wird. Seltsam, denke ich, wie nah beides beieinanderliegt und sich doch anfühlt, als läge ein ganzer Sommer dazwischen. Was eben noch Gegenwart war, ist jetzt Erinnerung. Was wir heute erleben, wird morgen dasselbe Schicksal haben. Dann sortiert man diese Tage ein wie kleine Schachteln, legt manche einfach weg und öffnet andere wieder und wieder, weil sie einen wärmen.

Kannst du die Gesichter sehen?

Die Steine tauchen auf. Sie kennen keinen Juli, keinen August, keinen Unterschied zwischen einem heißen Sommertag und einem kühlen Spätsommer. Für sie ist alles nur Zeit, die vergeht. Gleichgültig, endlos. Für mich aber sind es Bilder, die nebeneinanderliegen. Ein Tag im Juli, hell und drückend, allein. Ein Tag Ende August, grauer, geteilt mit jemandem, den ich mag. Zwei Augenblicke, die schon beginnen zu verblassen und die doch bleiben, weil man sie nicht vergessen will.

Der Sommer zieht vorbei. Ob er heute, morgen oder erst in ein paar Tagen endet, spielt keine Rolle. Der Kalender mag zwar seine Linien ziehen, doch in Wirklichkeit gibt es keine scharfen Kanten. Alles fließt. Alles geht immer ineinander über. Tag und Nacht. Ebbe und Flut. Anfang und Ende sind nur Namen, die wir erfinden, um Wandel für uns greifbar zu machen. Trotzdem schließe ich das Kapitel des Sommers 2025 mit dem heutigen Tag. Mit einem lachenden Auge. Vielleicht auch mit einem, das ein wenig wehmütig zurückschaut, denn ich weiß, dass manche Stunden dieses Sommers nie wiederkehren werden. Sie mögen sich eines Tages ähneln, aber niemals werden sie noch einmal so sein, wie sie waren. Und ich glaube, darin liegt ihr Wert. Sie sind einmalig, Singulär. Flüchtig und gerade deshalb so unfassbar wertvoll. Trotzdem kämpfe nicht mehr darum, dass etwas bleibt. Stattdessen lasse ich alles ziehen, was gehen will. Ich nehme an, was kommt, und bewahre, was geht, als Erinnerung, so wie es war.

Ja, vielleicht ist es genau das, was die Bruchhauser Steine einem zuflüstern. Also, dass alles vergeht und doch immer etwas irgendwie bleibt. Nicht die Tage selbst, nicht die Stunden, sondern die Bilder, die wir in uns tragen. Ein Tag im Juli. Ein Tag Ende August. Zwei Augenblicke, die längst beginnen zu verblassen und doch leuchten, weil man sie nicht vergisst. Wir gehen den Weg zurück, über Kies und Laub, vorbei an Büschen, an denen der Hund noch einmal schnuppert. Der Himmel bleibt geschlossen, das Ende des Sommers leise. Aber in mir ist er noch da. Als Erinnerung. Als etwas, das bleibt.

Heideflüstern.

Regen, Gespräche und ein schüchternes Lila.

Zwischen Undeloh und Wilsede liegt ein Land, das sich nicht erklären muss. Dort, in der Nordheide, genau da wo Niedersachsen wirklich leise wird, breitet sich eine Landschaft aus, die mehr mit Stille spricht als mit Worten. Weite Flächen, durchzogen von alten Sandwegen, auf denen die Zeit langsamer zu laufen scheint. Wacholderbüsche, die wie alte Figuren im Nebel stehen und hinter jeder Kurve tauchen Eichen oder Birken auf, die ihre Äste wie dunkle Gedanken zum Himmel strecken. An dem gestrigen Morgen hing der Regen noch in der Luft, ein feiner Schleier, der das Licht dämpfte und die Geräusche verschluckte. Die Heide war still, beinahe ehrfürchtig. Die ersten Blüten zeigten sich, zaghaft und blassviolett, als hätten sie Zweifel, ob es wirklich schon so weit ist. Und der Zweifel war berechtigt, denn eigentlich waren sie zu früh. Das Land roch nach feuchtem Holz, nach Erde und nach dem, was bleibt, wenn der Sommer Pause macht. Es war kurz nach sieben, als wir Undeloh verließen.

Die Lüneburger Heide ist weltberühmt für ihre Blüte. Jedes Jahr im August, wenn das Land sich in ein Meer aus Lila verwandelt, kommen die Menschen in Scharen. An schönen Tagen zieht ein endloser Strom von ihnen von Undeloh Richtung Wilsede, vorbei an den Schafställen, über die sandigen Wege, zu Fuß oder mit der Kutsche. Sie wollen das Leuchten sehen, das diese Landschaft berühmt gemacht hat. Und manchmal verliert die Heide dabei das, was sie im Innersten ausmacht: ihre Stille. Dann wird sie Bühne, Kulisse, Hintergrund für Stimmen, Gespräche, für das Gewusel der Gegenwart, für die Aufgeregtheit der Erwartungen.

Aber an Tagen wie gestern, nass, kühl und verregnet, gehört sie wieder sich selbst. Gerade morgens, wenn der Nebel tief zwischen den Wacholder zieht und die Regentropfen schwer auf den Ästen hängen, ist kaum jemand unterwegs. Die Heide spricht dann nicht laut. Sie flüstert. Und je länger man in dieser Stille unterwegs ist, desto mehr beginnt man zu hören. Ein Rascheln im Gebüsch. Den Flügelschlag eines Vogels. Den eigenen Atem. Das eigene Herz. Und irgendwann fällt alles ab. Das Drängen. Die Hektik. Das Denken. Das Müssen. Das Herz schlägt ruhiger, der Kopf wird leicht. Und man spürt plötzlich, wie viel man trägt, das gar nicht zu einem gehört.

Ich war froh, die schweren Stiefel angezogen zu haben. Sie trugen mich über den feuchten Sand, vorbei an nassen Sträuchern und ersten blühenden Heidebüschen, deren Farben im Regen fast schüchtern wirkten. Wir sprachen unterwegs über Arbeit, über Bedeutung, über Freiheit. Vor allem über das Gewicht, das dieses Wort mit sich bringt. Es klingt leicht, wenn man es ausspricht. Fast wie ein Versprechen. Aber in Wahrheit ist es etwas anderes. Freiheit ist kein Zustand. Sie ist eine Entscheidung. Und eine Verantwortung. Vor allem sich selbst gegenüber. Vielleicht nur sich selbst gegenüber. Wer frei ist, hat einfach keine Ausrede mehr. Kein System, das ihn aufhält. Aber auch keine Regeln, die ihn schützen, keinen fremden Willen, auf den man zeigen könnte. Freiheit heißt, sich selbst zu begegnen und vollständig auszuhalten, was man dort findet. Sie verlangt, dass man wählt. Immer wieder. Ohne Garantie. Ohne Beifall. Manchmal gegen alle. Und sie fordert einen Preis, den niemand sonst sieht.

In Wilsede angekommen, war alles still. Es war halb neun an diesem Samstag, doch der Ort schien noch zu schlafen. Die Reetdächer glänzten dunkel vom Regen, und über den Kopfsteinpflastergassen lag ein feuchter Dunst. Alles wirkte friedlich verschlafen, die Konturen, die Geräusche, selbst die eigenen Gedanken. Aus einem der Häuser stieg dünner Rauch, als hätte jemand ein kleines Feuer entfacht, nicht wegen der Romantik, sondern weil es scheinbar nötig war. Kein Mensch war zu sehen. Die Fenster dunkel, die kleinen Höfe, die man nicht betreten durfte, leergefegt. Es war, als hätte sich das Dorf für diesen einen Moment zurückgezogen. Tief in sich selbst. Als würde es die Freiheit genießen, die ihm bleibt, ehe die Wanderer, Tagesausflügler und Fotografen kommen würden.

Wir suchten den Gasthof, in dem wir frühstücken wollten, ließen die Stille wirken. Drinnen war alles urig, wie von der Zeit vergessen. Auf dem Tisch flackerte eine Kerze, draußen tropfte der Regen stetig vom Dach. Es gab keine Eile. Kein Lärm. Niemand rief, niemand erwartete irgendwas. Nur das leise Klirren der Tassen und das dumpfe Knarren des alten Holzes, wenn sich jemand bewegte. Eine Frau, vermutlich aus den Niederlanden, frühstückte allein am Nachbartisch. Sie war in ihr Smartphone vertieft, grüßte aber freundlich. Der Kellner summte eine kurze Melodie, die für einen Augenblick das Gefühl vermittelte, in Italien zu sein, während draußen ein anderer die Tische reinigte. „Möchten Sie gekochte Eier oder Rührei mit Speck?“ Wir wählten das Rührei mit Speck.

Wilsede unterscheidet sich von den meisten Dörfern, die ich kenne. Nicht nur, weil es so still ist oder weil die Zeit hier langsamer läuft, sondern weil es keine offiziellen Ortsschilder gibt. Keine stählerne Information auf gelbem Grund mit schwarzen Buchstaben. Der Grund ist einfach und irgendwie auch konsequent. Wilsede liegt vollständig im streng geschützten Kerngebiet des Naturparks Lüneburger Heide. Und hier beugt sich alles der Landschaft. Statt greller Verkehrszeichen stehen am Wegesrand schlichte, dunkle Holzschilder mit eingeritzten Namen. Reduziert, zurückhaltend, fast unsichtbar. Keine visuelle Belästigung. Kein Anspruch, der sich in den Vordergrund drängt. Zwei Kutscher unterhielten sich leise auf einem der kleinen Plätze am Dorfrand. Ihre Pferde standen so still, als hätten auch sie verstanden, dass dieser Ort nicht lauter werden darf. Wir verließen das Dorf, ließen Reetdächer und Kopfsteinpflaster hinter uns und gingen weiter, dem Totengrund entgegen.

Der Weg dorthin, links eine Weidefläche und ein Maisfeld, rechts ein kleiner Wald mit alten Bäumen, deren Äste sich behutsam über den Weg legten, wie eine schmale Allee. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Luft blieb kühl und feucht, voller Geruch nach nasser Erde und harziger Rinde. Und dann, fast ohne Vorankündigung, öffnete sich die Landschaft. Der Totengrund lag vor uns wie eine Erinnerung, die zu groß ist, um sie wirklich fassen zu können. Ein tiefer Talkessel, bewachsen mit Heide, durchzogen von uralten Bäumen, eingerahmt von stillen Hängen. Ein flüsternder Windhauch, sich selbst tragende Stille. Hier spürte man das Abfallen der Gedanken.

Ein paar Menschen waren bereits dort. Still. Fast ehrfürchtig. Sie sprachen kaum, viele sahen einfach nur in das Land oder vielleicht in sich selbst. Und dann hob sich plötzlich dieses Geräusch. Erst leise, dann lauter. Eine Drohne, gesteuert von einem Mann, untersetzt mit einem Vorsprung vorne, in wetterfester Outdoorjacke und kurzer Hose, mit einem Blick, der sich überlegen fühlt, ohne es zu sein. Er stand da, hielt seine Fernsteuerung, als müsse man ihn dafür bewundern. Das Surren schnitt sich durch die Stille, durch die Gedanken, durch alles. Es dauerte nur Minuten, aber es war genug. Die Ruhe war weg. Der Zauber gebrochen. Nicht wenige genervt. Und erst später, als die Drohne wieder verschwunden war, wurde es wirklich still. Fast so, als müsse die Heide erst wieder zu Atem kommen.

Wir blieben noch einen Moment am Rand des Totengrunds stehen, dann setzten wir den Weg fort. Er führte weiter durch die offene Heide, sanft abfallend, mit Blick auf das, was vor uns lag: den Hermann-Löns-Weg. Eine der bekanntesten Routen in dieser Region, benannt nach einem Mann, dessen Name hier, noch immer, wie ein Echo durch die Landschaft weht. Hermann Löns. Der Heidedichter. Jäger, Träumer, Eigenbrötler. Einer, der in dieser kargen, weiten Landschaft etwas sah, das andere oft übersehen. Einer, der die Stille nicht für Leere hielt, sondern für Tiefe. Seine Texte handeln von Birken, von Mooren, von der Liebe zum Einfachen. Und von einer Heimat, die nicht laut sein muss, um stark zu sein. Noch heute kennt man das Lied: „Hermann Löns, die Heide brennt.“ Ein alter Marsch, gesungen in Männerchören, früher wohl auch von Schulklassen auf Klassenfahrt. Die Melodie klingt in den Ohren vieler noch nach Kindheit. Nach Lagerfeuer. Nach Heimatkunde. Und doch brannte die Heide an diesem Samstag nicht. Sie atmete. Sie flüsterte. Und sie verlangte, dass man sie versteht.

Wir gingen weiter. Der Weg wurde schmaler, der Himmel weiter. Und irgendwo zwischen den Halmen, zwischen den Spuren im Sand, glaubte man für einen Moment, dass der Mann, dessen Name hier steht, nicht weit gewesen sein kann. Dann kam der alte Buchenwald. Und mit ihm der Regen. Unter dem Dach der alten Eichen und Buchen hörte man den Regen nur noch. Er und der Wind sangen eine Melodie, die nach längst vergangenen Zeiten klang. Die Eichen erinnerten an Bauern, an schweres Gerät und gebrauchte Hände. Die Buchen standen da wie Fürsten oder Könige. Breit, alt, wach, glatt und edel. Beide hatten ihre eigenen Geschichten. Und die Birken? Die ließen sich nicht einordnen. Vielleicht waren sie die Bürokraten? Oder die Advokaten des Waldes. Wir wussten es nicht. Auf dem Weg unterhielten wir uns über die Steine, die am Wegesrand lagen. Es waren große Findlinge, sorgfältig aufgeschichtet. Sie lagen nicht zufällig dort, wo sie lagen. Und wir fragten uns, wie lange sie wohl schon an dieser Stelle ruhten und was sie in all der Zeit gesehen haben könnten. Was würden sie erzählen, wenn sie könnten? Vom Krieg? Von unglücklichen Liebesgeschichten? Von Wanderungen, Umwegen, Heimwegen? Vom Lachen der Kinder?Die Steine? Sie schwiegen. Wie alles hier.

Eine umgestürzte Eiche hatte längst ihre Rinde verloren. Ihre Äste waren knochig und trocken, abgesehen vom Regen, der auf ihnen hängen blieb. Ob dieser Baum „bespielbar“ gewesen wäre? Wir wussten sofort, dass wir als Kinder auf ihm gespielt hätten. Dann kam die Sonne durch. Für einen Moment schien sie zu prüfen, ob wir noch da waren. Und als wäre das ein Zeichen gewesen, kamen uns andere Wanderer entgegen. An einem Schafstall kam der Regen zurück. Leicht und sanft. Wir legten die Taschen unter eine große Eiche, stellten uns unter das Vordach des alten Stalls und sagten für eine Weile nichts. Einfach gar nichts.

Wieder zurück in Wilsede hatte sich der Ort verändert. Vor wenigen Stunden war er leer gewesen. Doch nun lebte er. Menschen standen auf den Plätzen, betrachteten die alten Fachwerkfassaden und Reetdächer, warteten geduldig an den Kutschplätzen oder saßen im Vorgarten des Gasthofs beim verspäteten Mittagessen. Einige ältere Herrschaften, mit karierten Tüchern, steifen Frisuren und einem Gesichtsausdruck, der an Großeltern erinnerte, die man nie ganz vergessen hat, aßen Kuchen. Mit viel Sahne. Die Pferde schnaubten, der Regen tropfte hier und da vom Laub der Bäume. Wir gingen über das Pflaster. Kein modernes, auf neu getrimmt, sondern echtes. Alt, unregelmäßig, voll kleiner Zwischenräume, gelegt aus kleinen und größeren Findlingen. Und während wir dort spazierten, waren wir uns einig: Genau so müsste unsere Hofeinfahrt aussehen. Nicht perfekt. Aber mit Geschichte unter den Füßen.

Dann nahmen wir den Weg zum Wilseder Berg. Der Anstieg war ruhig, nur vereinzelt kamen uns Wanderer entgegen. Am Rand stand eine Bank, neben einem Baum und doch voll im Licht. Wir setzten uns, schauten in die Landschaft, tranken einen Schluck. Alles war still, selbst der Regen legte eine Pause ein und überließ der Sonne das Feld. Oben auf dem Berg war es dann, als würde man den Himmel berühren. Die Heide lag unter uns, ein Mosaik aus Farben und Formen. In der Ferne verloren sich die Wege, zwischen Wacholder und Gras. Dann schien es, als folgte nur noch Wald. 

Und dort, an diesem Platz auf einer Bank, sprachen wir über Mord. Es war eines dieser Gespräche, die aus dem Nichts entstehen, ohne Plan, ohne Absicht. Wir stellten uns vor, wie man wohl unbemerkt einen Mord begehen könnte, mitten in der Heide. Ob man hier jemanden verschwinden lassen könnte. Und wenn ja, wie? Wir lachten. Nicht laut, nicht zynisch, eher wie Menschen, die wissen, dass solche Gedanken nicht gefährlich sind, solange man sie mit dem richtigen Blick betrachtet. Vielleicht war es auch nur eine Art, mit der Größe des Ortes umzugehen. Mit der Ahnung, wie nah das Leben und das Vergängliche manchmal beieinander liegen. Eigentlich hatten wir vorher nur kurz über einen Podcast gesprochen. Über irgendeine True-Crime-Folge, die sich in den Tag gemischt hatte. Und wahrscheinlich kamen wir so auf dieses Thema. Es war eine Unterhaltung mit Humor und ohne großes TamTam. Dann kam der Regen zurück. Erst kaum hörbar, dann fester. Ein leiser Donner rollte über das Land. Wir blieben noch einen Moment, sahen in die Ferne, dann machten wir uns auf den Rückweg. Während eines Gewitters will man nicht am höchsten Punkt sitzen. Und irgendwo hinter uns schlug der Regen auf die kalten Steine, als wolle er sagen: Es reicht für heute.

Nach genau zehn Stunden und mit zwanzig Kilometern in den Beinen standen wir wieder in Undeloh. Eigentlich hatten wir uns verlaufen wollen. Einfach irgendwo falsch abbiegen, aber das war uns nicht gelungen. Der Parkplatz hatte sich inzwischen gefüllt. Menschen kamen, Menschen gingen. Einige stiegen gerade erst aus ihren Autos, zogen ihre Jacken an, richteten ihre Rucksäcke. Andere saßen still vor ihren Wohnwagen, tranken etwas, wechselten Schuhe, sahen ins Leere oder auf ihre Smartphones. Vom Hotel her klirrte Geschirr. Jemand lachte ziemlich laut. Irgendwo bellte ein Hund. Jemand sprach mich auf meine Schuhe an. Sagte, das seien die richtigen. Ich lächelte, bedankte mich und warf einen Blick auf die anderen Schuhe. Dann verstand ich. Und auf dem Weg nach Hause blieb der Gedanke, dass es immer diese Tage sind, die Erinnerungen schaffen, die nicht fragen müssen, ob sie bleiben dürfen.

20 Km und Staub auf den Stiefeln.

Als wir den Weg hinaufgingen, hatte sich die Finsternis längst über den Wald gelegt. Ein tiefes Schwarz, das von den hohen Tannen verschluckt wurde. Nur das matte Glimmen der Lichterketten, verborgen hier und da in den Zweigen, ließ erahnen, dass an diesem Ort etwas geschah. Der Weihnachtsmarkt war keiner im üblichen Sinne. Es war ein Ort, an dem die Dunkelheit und die Stille des Waldes mit dem Flackern des Lebens verschmolzen. Die kleinen Hütten, aus Holz gezimmert, standen wie zufällig verteilt. Von innen fiel warmes Licht auf den nasskalten Boden. Die Geräusche waren gedämpft, als würde der Wald selbst den Klang verschlucken – leises Murmeln, das Knacken von Feuerholz, das sanfte Scheppern von Gläsern. Hin und wieder spielte eine Kapelle Weihnachtsmelodien auf Blechinstrumenten. Der Duft von Harz, Glühwein und geräuchertem Wild lag in der Luft – schwer und doch vertraut, wie eine Erinnerung, die man nicht ganz greifen kann. Zwischen den Ständen bewegten sich die Menschen langsam. Ihre Gesichter waren von den flackernden Flammen beleuchtet, die an verschiedenen Stellen lodernd gegen die Kälte ankämpften. Ein alter Mann verkaufte handgeschnitzte Figuren. Jede von ihnen hatte eine Narbe, einen Riss im Holz, der ihre Geschichte erzählte. Neben ihm bot eine junge Frau selbstgemachte Getränke an, ihre Hände zitterten leicht vor Kälte. Ein Kind, eingehüllt in eine viel zu große Jacke, starrte gebannt auf einen Schwibbogen, dessen Licht die Dunkelheit durchbrach. Es schien, als wäre dieser Moment nicht gemacht für das Hier und Jetzt, sondern für eine Erinnerung, die erst viel später Bedeutung bekommen würde. Dieser Weihnachtsmarkt war kein Ort des Trubels. Er war leise, fast zärtlich. Die Dunkelheit war hier kein Feind, sondern ein Schutz – ein Mantel, unter dem die Menschen für einen Augenblick das fanden, was sie suchten: Wärme, Licht, vielleicht ein wenig Frieden.

Denise fragte mich, ob ich mit ihr auf einen Weihnachtsmarkt gehen wollte. Ich zögerte. Weihnachtsmärkte waren für mich immer Orte gewesen, an denen der Glühwein nach billigem Zimt und schlechter Laune roch. Die Lichterketten spannten sich dort wie klebrige Netze über die Köpfe der Menge, und die Menschen, eingehüllt in dicke Jacken, schoben sich gegenseitig träge vorwärts – wie Teil eines endlosen, ziellosen Stroms. Zwischen den Hütten, die krampfhaft versuchten, etwas von der Magie der Weihnacht zu imitieren, schien alles zu viel. Zu viel Lärm, zu viel Gedränge, zu viel von dieser eigentümlichen Fröhlichkeit, an die niemand wirklich glaubte. Und in den Ecken, wo das Licht schwächer wurde, standen sie – die Gruppen aus Bürokaufleuten, einheitlich in ihrem Versuch, dem Alltag zu entkommen. Ihre Stimmen waren zu laut, ihre Becher mit billigem Glühwein längst kalt, und sie trugen blinkende Plastikgeweihe auf den Köpfen, als könnte das ihre Freiheit symbolisieren. Es war der Abend – vielleicht der eine im Jahr, an dem sie versuchten, das Leben zu spüren, sich aus der Routine zu befreien. Aber das war keine Freiheit. Es war nur ein anderes Gefängnis: ein Kessel aus lärmenden Stimmen, fettigem Essen und dem angestrengten Versuch, sich einzureden, dass dies wirklicher Spaß sei.

Dieser Weihnachtsmarkt ist anders“, schwor sie. „Er wird dir gefallen.“ 
Und nachdem sie mir ein paar Details verraten hatte, willigte ich ein. Als wir auf dem Parkplatz ankamen, begann der Nachmittag schon langsam damit, den Abend zu begrüßen. Hinter den hohen Tannen, Kiefern und Fichten türmten sich einige Wolken auf. Sie wirkten bedrohlich, voll Regen, doch dieser blieb – entgegen den Vorhersagen – aus. Wir gingen über einen kleinen Waldweg, erreichten das Gelände und sahen die ersten Buden. Gemeinsam entschieden wir uns, eine Wildbratwurst im Brötchen mitzunehmen, und spazierten eine Runde durch den Wald.

Im Wildwald Vosswinkel ist die Stille ein eigenes Wesen. Sie atmet, dehnt sich aus und zieht sich zurück, als wäre sie lebendig. Die alten Bäume mit ihren knorrigen Ästen, die wie Finger in den Himmel ragen, sind stille Zeugen der Zeit. Der Boden unter den Füßen ist weich, bedeckt von einem Teppich aus Moos und Nadeln. Es riecht nach Erde, nach Holz, nach Leben und Verfall zugleich. Manche Menschen kommen hierher, um zu fliehen – vor der Welt, vor sich selbst. Andere suchen etwas: Ruhe, Frieden, Antworten. Sie folgen den verschlungenen Pfaden, die sich wie Adern durch den Wald ziehen, manchmal so schmal, dass man glauben könnte, sie seien nur für die Tiere gedacht. Mit etwas Glück stehen plötzlich Wildschweine im Unterholz, starren einen an, als wüssten sie mehr, als man je verstehen könnte. Dieses Glück blieb uns an diesem Tag jedoch verwehrt.

Die Luft war kühl, fast feucht, und wenn der Wind durch die Bäume fuhr, klang es wie ein Flüstern. Vielleicht erzählte der Wald von den Geschichten, die er gesehen hatte: von den Jägern, die kamen, den Kindern, die hier spielten, und den Stunden, die vergingen, ohne dass sie jemand bemerkte. Und dass dem so war, sollte ich erst später bemerken. Da war ein Platz im Wald, an dem die Bäume zurückwichen, als hätten sie Ehrfurcht vor dem, was hier geschah. Dort lag eine Lichtung – still, fast zu perfekt. Es begann wie ein Echo aus der Tiefe des Waldes, ein dumpfes Knacken, das sich wie ein Raunen durch die Bäume zog. Dann das Krachen von Geweihen, ein Klang, roh und präzise zugleich, wie das Schlagen von altem Holz gegen Stein. Jeder Aufprall schien die Luft zu spalten, das Geräusch federte nach, wie ein Ton, der zu groß war, um nur gehört zu werden.

Hirsche bewegten sich wie Schatten auf der Lichtung, ihre Bewegungen schwer und doch von einer unheimlichen Eleganz. Mit jedem Angriff, jedem Zusammenprall wurde der Klang wilder, schneller, als würde die Dunkelheit selbst mitkämpfen. Kein Chaos, sondern ein Rhythmus – uralt, unverändert, ein Klang, der von etwas Tieferem sprach als bloßer Gewalt. Manchmal hörten wir die Hufe, die den Boden trafen, das Knirschen der Blätter und das Ächzen der Geweihstangen, wenn sie sich ineinander verkeilten. Und dazwischen – diese Pausen. Ein Augenblick der Stille, ein leises Scharren, der dumpfe Atem der Tiere. Es war, als hielte die Welt den Atem an, bevor alles von Neuem begann. In der aufkommenden Dunkelheit, wo die Lichtung nur noch schemenhaft zu erkennen war, verschwand der Klang nicht. Er blieb – in den Bäumen, im Boden, vielleicht sogar in der eigenen Brust. Ein Geräusch, das nicht nur gehört, sondern gespürt wurde, als gehöre es mehr zur Natur als man selbst.

Als der Abend längst im Wald angekommen war, machten wir uns auf den Weg zurück zum Weihnachtsmarkt. Bald tauchte ein alter Bauernhof aus der Nacht auf, beinahe unberührt von der Zeit. Die Holzbalken der Gebäude waren dunkel und verwittert, die Dächer bedeckt von einer Schicht Moos, die sich mit den Jahren wie ein stiller Schutz über das Gemäuer gelegt hatte. Es war ein Hof, der nichts von der Moderne wollte, der stolz war auf seine Einfachheit. Ziegen liefen frei über den Hof, ihre Silhouetten zeichneten sich gegen das schwache Licht ab, und ein Hund sorgte hin und wieder dafür, dass sie nicht zu weit abschweiften. Sein Bellen war selten, aber eindringlich, ein kurzer Befehl, dem die Tiere augenblicklich folgten. Der Weg vor uns war schmal und still, für Autos unzugänglich, und doch lebendig. Eine Feuerschale brannte am Rand, ihre Flammen warfen zitternde Schatten auf die Bäume. Der Duft von verbranntem Holz hing in der Luft, rau und ehrlich, wie eine Erinnerung an längst vergangene Abende am Kamin.

Als wir den Wald wieder betraten, umgab uns die Stille, nur unterbrochen vom Knirschen unserer Schritte auf dem Waldboden. Schließlich erreichten wir den Platz, an dem der Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Er lag da wie eine Insel des Lichts inmitten der Dunkelheit. Eine kleine Kapelle spielte auf ihren Blechblasinstrumenten ein Weihnachtslied. Die Melodie trug sich durch die klare, kühle Luft, sanft und melancholisch, als würde sie die Bäume selbst zum hören bringen. Die Buden, aus Holz gefertigt und mit Tannenzweigen geschmückt, boten alles, was man sich von einem Weihnachtsmarkt wünscht. Es waren keine industriell gefertigten Waren, sondern handgemachte Kostbarkeiten, die Geschichten erzählten. Händlerinnen und Händler, mit roten Wangen und freundlichen Stimmen, präsentierten Wildfleisch, hausgemachte Säfte und Aufstriche, die nach Heimat schmeckten. Hier und da durfte man probieren, und es schien, als habe niemand Eile. Es gab kein Drängen, keine lauten Stimmen – nur das ruhige Miteinander der Menschen, die diesen Ort für einen Moment zu etwas Besonderem machten. Kleine Feuer loderten, ihre Wärme zog die Menschen an wie ein stilles Versprechen. In den urigen Hütten, die an alte Forsthäuser erinnerten, hing der Duft von Holz und Geschichte. Geweihe zierten die Wände, und in einem der Räume prasselte ein Feuer in einer eisernen Feuerschale, die in der Mitte des Zimmers stand. Denise und ich wärmten unsere Hände an einem heißen Getränk, während wir den anderen zusahen, die schmunzelnd das Gewicht eines erlegten Wildschweins schätzten, das es zu gewinnen gab.

Schreib mal 29 Kilo“, sagte ein Vater zu seinem Kind und deutete auf das Papier vor ihm. Das Kind hielt den Stift bereits in der Hand, zögerte jedoch, als Denise leise einwandte: „Es ist leichter, vielleicht die Hälfte.“ Der Vater, überrascht von ihrem Widerspruch, hob eine Augenbraue und erinnerte daran, wie schwer ein ausgewachsenes Wildschwein sein könne. 
Doch Denise, in ihrer ruhigen und sachlichen Art, erklärte: „Das hier ist kein ausgewachsenes Tier. Außerdem muss man bedenken, dass es bereits ausgenommen ist.“ Der Vater hielt kurz inne, lächelte dann und sprach zu seinem Kind: „Dann schreiben wir eine andere Zahl.“ Gemeinsam notierten sie ihren Tipp, und auch wir gaben unsere Schätzung ab. Als die tatsächliche Zahl verkündet wurde, lag Denise erstaunlich dicht am Ergebnis. Dennoch reichte es nicht für den Gewinn, jemand anderes wurde gezogen.

Auf diesem Weihnachtsmarkt verlor ich das Gefühl für die Zeit. Es gab kein hektisches Gedränge, kein schrilles Stimmengewirr, nur ein ruhiges Dasein, das sich um mich legte wie eine weiche Decke. Meine Kamera, die ich mitgenommen hatte, blieb unbenutzt, und mein Smartphone versteckte sich die meiste Zeit in meiner Jackentasche. Es war ein Abend für die Erinnerung, nicht für die Technik. Wir schlenderten noch einmal über den Markt, betrachteten die Buden und das, was dort angeboten wurde. Schließlich fanden wir uns in dem Raum wieder, in dessen Mitte das Feuer prasselte. Der Schein der Flammen tanzte auf den Wänden, und die Wärme schien den Abend noch ein Stück näher an uns heranzurücken. Wir aßen eine Kleinigkeit, tranken etwas, und manchmal unterhielten wir uns. Manchmal schwiegen wir – nicht aus Mangel an Worten, sondern weil die Stille selbst alles sagte. Es war jene besondere Stille, die nicht leer ist, sondern erfüllt, wie eine unsichtbare Brücke zwischen Menschen.

Der Mond stand hoch am Himmel, als wir uns schließlich auf den Weg machten. Sein Licht fiel silbern auf die schmalen Wege, und der Wind strich sanft durch die Äste der Bäume, als wolle er uns leise verabschieden. Wir gingen über den alten Waldweg zurück zum Parkplatz, stiegen ins Auto und ließen die Lichter des Weihnachtsmarktes hinter uns. Doch die Eindrücke des Abends blieben – Bilder, Gerüche, Worte, die sich irgendwo tief in uns festsetzten. Es war, als wäre dieser Tag nicht für das Hier und Jetzt gemacht, sondern für eine Erinnerung, die erst später ihre wahre Bedeutung entfalten würde.