Nach dem Regen.

Aber es hört nie ganz auf zu regnen.

Der Regen hat aufgehört. Und doch ist die Welt noch voll davon. An einem Haus läuft Wasser aus den Rinnen des Daches, sammelt sich am Rand der Straße und findet immer neue Wege, um irgendwohin zu verschwinden. Der Himmel ist bleigrau. Wie längst gebrauchte Leichentücher, ohne Kontur, als hätte er die Form vergessen. Die Felder liegen hügelig und schwer. Übersättigt von dem, was war. Ich gehe ein Stück die Landstraße hinunter. Der Asphalt ist dunkel, gesprenkelt von Pfützen, in denen sich bei näherer Betrachtung die Bäume spiegeln. Verdreht. Wie Erinnerungen, die man nicht mehr richtig zusammensetzen kann. Am Straßenrand steht ein alter Zaun aus Holz. Nass. Rissig. An einigen Stellen mit Moos überzogen. Ein Vogel sitzt dort. Klein. Fast unscheinbar. Vielleicht bleibt er deshalb. Vielleicht, weil er verstanden hat, dass man manchmal einfach nur aushalten muss. Der Wind, der von Westen kommt, trägt den Geruch von nasser Erde mit sich. Und auch das entfernte Dröhnen einer Bundesstraße. Alles vergeht. Und alles bleibt. Der Regen hört auf, aber die Nässe bleibt noch im Boden. Der Tag geht zu Ende, aber das Licht hängt noch eine Weile in den Pfützen. Manchmal frage ich mich, ob Bewegung überhaupt etwas verändert oder ob sie nur dafür sorgt, dass wir glauben, wir kämen irgendwo an. Weiter unten beginnt die Stadt. Zunächst nur einzelne Häuser. Verstreut zwischen den Hängen. Dann werden sie dichter. Geordneter. Größer. Als hätte jemand beschlossen, das Chaos zu zähmen. Auf einem Hof im Industriegebiet steht ein alter Bus. Das Dach voller Laub. Daneben stapeln sich Reifen. Auch hier hat der Regen Spuren hinterlassen. Kleine Rinnsale, die sich über Beton ziehen. Fast so, als wüssten sie noch nicht, dass hier kein Boden ist, der sie aufnehmen kann. Hinter einer Scheibe flackert ein Fernseher, und auf dem Bürgersteig liegen Zigarettenstummel. Ein Junge fährt mit dem Fahrrad vorbei. Das Schutzblech klappert. Der Reifen schleudert Tropfen auf seine Hose. Nichts davon ist besonders, und doch erzählt es vom Leben, wie es weitergeht. Auch dann, wenn niemand hinsieht.

Ich gehe weiter. Langsam. Mit den Händen in den Taschen. Vorbei an Garagen. Hallen. Werkstätten. Hier und da Gebäude mit verblassten Firmenschildern. Irgendwo klappert ein Rolltor. Glaube ich. Metall auf Beton. Auf einem Schild steht „Zu vermieten“. Der Lack blättert bereits ab. Einen Augenblick bleibe ich stehen. Vielleicht war dort mal eine Tischlerei. Oder ein Traum, der sich nicht mehr gerechnet hat. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Manchmal rechnen sich die eigenen Träume nicht. Vielleicht waren es auch nur die falschen. Hinter einer der staubigen Scheiben hängt ein alter Kalender. Einer dieser großformatigen, mit halb verblassten Fotografien von Models zwischen Werkzeugen, Autos und Maschinen. Es gibt Männer, die mögen sowas. Ich nicht. Die Jahreszahl kann ich nicht erkennen, nur die Zeit, die darin steckt. Es gibt Jahre, die gehen einfach nicht weiter. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, denke ich darüber nach, ob Arbeit wirklich das ist, was sie uns immer erzählt haben. Sicherheit. Struktur. Sinn. Ich bin vierundvierzig. Fast fünfundvierzig. Und wenn man zu lange aus dem alltäglichen Berufsleben verschwunden ist, wird man schnell übersehen. Zu alt für einen Neuanfang. Zu jung, um aufzugeben. Manchmal schreibe ich Bewerbungen, die nie beantwortet werden. Manchmal bekomme ich Absagen. Und manchmal schicke ich sie gar nicht erst ab. Aus Stolz vielleicht. Oder aus Müdigkeit. Ein Bus fährt vorbei. Hinter beschlagenen Scheiben sitzen Menschen, die vielleicht gerade von der Arbeit kommen. Ihre Gesichter wirken müde, leblos, wie ausgewaschen vom Tag. Sie schauen irgendwohin, aber sehen nichts. Kurz darauf verschwindet der Bus in der Kurve. Für einen Moment bleibt nur das Brummen des Motors zurück. Dann wieder Stille. Jeder hat seinen eigenen Kampf, den er still mit sich selbst austrägt.

Es gibt Tage, da denke ich an das, was hätte sein können. Nicht, weil ich etwas bedauere. Sondern weil ich verstehen will, wo die Weggabelungen oder Kreuzungen wirklich lagen. Früher dachte ich immer, Träume wären etwas, das man festhalten muss. Heute weiß ich, sie haben ihr eigenes Tempo. Wir träumen, bis das Leben uns einholt, und nennen das dann Erfahrung. Vielleicht ist das der Preis dafür, älter zu werden. Man erkennt, dass nichts verloren geht, aber vieles zu etwas anderem wird. Wünsche, die man zu lange mit sich trägt, werden schwer. Erst merkt man es kaum. Aber dann, mit jeder Erinnerung ein bisschen mehr. Irgendwann verändern sie sich. Sie werden zu Geschichten, die man sich selbst erzählt, um nicht zu vergessen, was man einmal wollte. Zu Sätzen, die man nicht mehr laut sagt, weil man längst weiß, dass sie nichts mehr ändern. Vielleicht auch, weil man nicht mehr die Stimme dafür hat. Manchmal spüre ich sie noch, meine alten Wünsche. Nachts, wenn alles still ist und der Kopf zu viel Platz hat. Dann riecht die Luft nach Benzin. Nach Papier. Nach Staub. Gerüche, die man nicht loswird, weil sie irgendwo tief in einem geblieben sind. Und während ich dann irgendwo sitze, frage ich mich, ob das noch Sehnsucht ist, dieses leise Ziehen, das nicht wehtut, aber bleibt oder nur der Versuch meiner Seele, endlich Frieden zu finden.

Was wäre gewesen, hätte ich mich anders entschieden? Früher vielleicht. Entschlossener. Lauter. Aber wer weiß schon, was richtig war? Vielleicht ist es wie mit dem Regen. Er fällt, wann er will, und hört auf, wenn niemand mehr hinsieht. Vielleicht ist das Leben genauso. Es passiert. Und während wir damit beschäftigt sind, es uns selbst irgendwie verständlich zu machen, zieht es einfach weiter. Nein. Die großen Wendepunkte gibt es nicht. Das wird mir immer klarer. Alles beginnt viel früher. Es sind die kleinen Dinge, die bleiben. Formen. Verändern. Ein Satz, den jemand beiläufig sagt. Das Geräusch von Schritten in einer leeren Halle. Der Blick eines Hundes, der nichts fragt. Der kleine Einkauf an einem Samstag, weil sonntags die Geschäfte geschlossen sind. Die Kartoffeln, mit denen man sich solche Mühe gegeben hat und die am Ende trotzdem nicht schmecken. Komisch. Aber in solchen Momenten verstehe ich, dass Träume nicht sterben. Sie werden nur leiser. Vielleicht war das immer ihr eigentlicher Zweck. Vielleicht gibt es Träume nur, damit wir nicht stehen bleiben. Damit wir uns an etwas festhalten, wenn alles andere sich verändert. Vielleicht geben sie uns Richtung, auch wenn sie uns nie wirklich irgendwohin führen. Vielleicht ist genau das ihre Aufgabe, uns lange genug hoffen zu lassen, bis wir müde werden vom Warten. Bis wir begreifen, dass das, was wir gesucht haben, gar nicht in der Bewegung liegt, sondern im Stillwerden danach. Vielleicht sollen sie uns nicht erfüllen, sondern begleiten. Wie ein leises Versprechen, das man irgendwann nicht mehr wörtlich nimmt, aber trotzdem nicht ganz vergisst. Und wenn sie schließlich verblassen, bleibt etwas anderes zurück. Kein Schmerz. Kein Verlust. Eher diese Art von Ruhe, die kommt, wenn man sich nicht mehr wehren muss. Wenn man nicht mehr warten will. Vielleicht war das der Sinn von allem, zu lernen, in der Ruhe Heimat zu finden, ohne das Gefühl zu bekommen, irgendetwas verpasst zu haben. Am Ende wartet nichts auf uns. Kein Ziel. Kein Versprechen. Nur die Stille. Und sie ist gnädiger, als man denkt. Vielleicht ging es nie darum, irgendwo anzukommen. Vielleicht war das Ziel einfach, nicht stehen zu bleiben, während man langsam verschwindet.