Oktober.
Alles, was bleibt, ist der Augenblick.
Oktober. Er ist da. Er kam fast unscheinbar. Kein Feuerwerk. Kein lauter Auftakt. Nur ein sanftes Kippen der Tage. Leise, fast schüchtern. Man wacht auf und merkt, dass die Luft kühler ist, die Jacke am Haken plötzlich wieder Sinn hat. Auf den Straßen liegen Kastanien. Halb zertreten und doch glänzend wie Münzen, die niemand mehr aufhebt. Ein älterer Mann fegt das Laub von seiner Einfahrt, als würde er den Sommer endgültig ausradieren. Manchmal denke ich, der Oktober ist dieser Monat, der einem zeigt, wie schnell sich Dinge verändern, ohne dass man es wirklich bemerkt. Der Bus kommt wie immer zur gleichen Zeit. Der Nachbar trägt den Müll raus. Die Welt dreht sich weiter. Nur das Licht fällt anders. Tiefer, schräger, manchmal so, als wolle es die Wahrheit hervorholen, die man sonst übersieht. Und plötzlich merkt man, dass es genau diese leisen Bewegungen sind, die das Leben verändern.
Ich sitze am Schreibtisch. Vor mir ein Notizbuch. Daneben ein Stift, der nicht mehr schreibt. Ein Glas, in dem nur noch ein Rest Wasser steht. Abgestanden. Geschmacklos. Nichts davon hat Bedeutung und trotzdem bleibt mein Blick daran hängen. Vielleicht, weil das Leben manchmal genau so ist. Es erscheint bedeutungslos in seinen Details und doch nicht auszuhalten ohne sie. Draußen knallt eine Autotür, dumpf, endgültig. Eine Frau fährt mit ihrem Fahrrad über die Straße. Talko seufzt unter dem Tisch, als wüsste er mehr als ich. Es sind immer Kleinigkeiten und doch haben sie Gewicht. Das Leben besteht nicht nur aus Höhepunkten. Wir tun nur oftmals so. Oder wir zeigen nur diese. Es kommt aufs Gleiche hinaus. Und dann warten wir auf diese Momente, die alles erklären, die uns retten sollen. Aber vielleicht ist das eine Lüge. Vielleicht sind diese großen Dinge nur das, was zwischen den Momenten passiert. Vielleicht ist es der Staub auf dem Tisch, das Knistern eines Blattes unter dem Schuh. Vielleicht sind es diese Dinge, die uns wirklich irgendwie verändern. Der Oktober zieht uns den Sommer aus den Händen, ohne uns zu fragen, und gibt uns dafür nichts als kürzere Tage und längere Nächte. Veränderung fragt nie, ob wir bereit sind. Sie passiert einfach. Und vielleicht ist genau das der Punkt, an dem das Leben anfängt.
Vielleicht merke ich es gerade an mir selbst. Ich stehe jeden Morgen auf, noch bevor es hell wird, gehe mit Talko über alte Feldwege. Der Boden ist feucht, das Gras kalt, meine Gedanken lauter als der Wind. Ich zähle Schritte, aber sie zählen nicht wirklich. Eigentlich sind sie vollkommen belanglos. Und manchmal denke ich, dass ich mich so bewege, um nicht stillzustehen. Ich bin 44 Jahre alt und habe oft immer noch das Gefühl, nirgends wirklich angekommen zu sein. Kein Ort, an dem man sagt: hier bin ich richtig. Eher ein Zwischenraum, ein Warten, ein Dazwischen. Ich tue, was ich kann, ich arbeite, ich schreibe, ich laufe, ich halte durch. Aber es bleibt dieses Gefühl, dass sich das Leben nicht festhalten lässt, dass es durch die Finger rinnt wie Wasser aus einem Glas, das schon fast leer ist. Jammern auf hohem Niveau. Es sind keine großen Dramen, nur diese kleinen Dinge, die sich stapeln. Mein Blick in den Spiegel am frühen Morgen, der nichts Neues zeigt. Der Schritt in einen Raum, in dem die Stille schwer an den Wänden hängt. Der Gedanke, dass man längst hätte weiter sein sollen.
Ich denke schon, es ist dieser Gedanke, der mich immer wieder einholt und langsam begreife ich, dass nicht die großen Sprünge zählen, sondern die kleinen Dinge, die man selbst jeden Tag verändert. Oder verändern kann. Es braucht im eigenen Leben keine Revolution, keinen ständigen Neuanfang über Nacht, sondern winzige Handgriffe, die am Ende aber doch schwerer sind, als sie aussehen.
Ehrlich zu sich selbst sein. Klingt eigentlich ganz einfach. Man schaut in den Spiegel, nickt sich zu, sagt sich die Wahrheit. Aber in echt ist es wie ein Messer, das langsam angesetzt wird. Es schneidet durch die Geschichten, die man sich über Jahre erzählt hat. Und das kann weh tun.
Loslassen. Ob Menschen, alte Träume oder Vorstellungen. Jeder sagt, man solle loslassen, als sei es ein Knopfdruck. Und irgendwie habe ich das selbst immer getan. Doch in Wahrheit reißt es einen innerlich auseinander. Man verliert zuerst ein Stück seiner Identität, bevor man merkt, dass es nur Ballast war.
Nein sagen. Nur zwei Buchstaben, aber sie haben das Gewicht von tausend. Nein sagen heißt, Grenzen setzen. Heißt, vielleicht jemanden zu enttäuschen. Heißt, sich selbst nicht mehr ausverkaufen.
Vergeben. Nicht irgendwelchen anderen Menschen. Sondern sich selbst. Ich glaube, das ist die härteste Übung. Man schaut auf sein Leben und erkennt Fehler, Schwächen, Dinge, die man anders machen wollte aber nie getan hat. Und dann sagt man trotzdem: es ist okay.
Sich wirklich entscheiden. Wie oft habe ich das schon aufgeschoben, weil eine klare Entscheidung eben auch bedeutet, dass alle anderen Wege sterben. Aber am Ende frisst jede nicht getroffene Entscheidung Zeit, sie frisst Leben.
Der Schreibtisch liegt hinter mir. Ich stehe draußen. Oktoberluft auf der Haut. Klar. Kühl. Wie ein Versprechen, das keiner laut ausspricht. Die Jacke macht Sinn. Über mir hängen Wolken wie schwere Tücher, darunter ein schmaler Streifen Licht, der alles für einen Moment weich macht. Auf den Wegen liegt das Laub der Eichen, der Kastanien. Aufgeweicht. Zerrissen. Und doch hat jedes noch seine Form. Ich gehe weiter, höre Talkos Schritte neben meinen, das leise Rascheln, den Wind, der durch die Hecken zieht. Alles ist so einfach und so schwer zugleich. Nichts davon gehört mir und doch ist es alles, was ich habe. Oktober. Herbst. Er zeigt mir, dass Dinge fallen dürfen, dass Verluste nicht immer ein Ende sind, sondern Platz schaffen. Dieser Monat erinnert mich daran, dass das Leben kein Ziel ist, sondern ein Weg. Und vielleicht liegt darin mehr Trost, als ich mir eingestehen will. Ich muss nicht angekommen sein, wenn Leben bedeutet, unterwegs zu sein.