Derb & distinguiert

Vielleicht befinde ich mich ja wirklich mitten in einer waschechten Midlife-Crisis. Das wäre ja nicht weiter überraschend, denn immerhin nähere ich mich der 43 – ein Alter, in dem man laut den trockenen Statistikern noch gute 35 Jahre auf diesem verrückten Planeten zu erwarten hat. Natürlich könnte das Schicksal auch andere Pläne haben; mehr Jahre, weniger Jahre – wer weiß das schon so genau? Ich sicher nicht. Was mein Leben betrifft, muss ich gestehen, es ist ein einziges Durcheinander. Die Dinge passieren mehr zufällig als geplant, und oft genug habe ich das Gefühl, das Leben jagt mich durch die Tage, statt dass ich irgendwelche Zügel in der Hand halte. Die Vorstellung, dass ich alles im Griff hätte, ist eine grandiose Fehleinschätzung. Das komplette Gegenteil ist der Fall. Aber das gebe ich natürlich nicht zu. Das wäre allzu peinlich. Wer steht schon gerne öffentlich da und gesteht, dass er die Zügel des Lebens nicht wirklich in der Hand hält? Das wäre doch das Zeug, aus dem Albträume sind. Und schaut man sich um in der glitzernden Welt von Instagram und Co., wird man geradezu erschlagen von einer Flut perfekt inszenierter Lebensausschnitte und makellosen Gesichtern. Die perfekte Illusion der Kontrolle und des Glücks.

Wie gesagt, bald schlage ich mein persönliches Kapitel 43 auf – die Lebensuhr tickt unerbittlich. Und ich habe das beklemmende Gefühl, so vieles noch nicht gesehen oder erlebt zu haben. Beruflich gesehen bin ich weder eine Leuchte noch ein Vorzeigeexemplar. Niemand, der – Stand heute – jemals für sein Lebenswerk geehrt werden dürfte. Mein Lebenslauf gleicht eher einer Zickzackroute als einem geraden Weg, und wenn ich aus purer Neugierde die Stellenanzeigen in der Wochenendzeitung durchstöbere, steigen mir die Tränen in die Augen. Es überrascht mich kaum, dass von einem Fachkräftemangel die Rede ist. Den Studiengang für die „Eierlegende Wollmilchsau“ habe ich noch in keinem Universitätsprospekt oder Programm eines Bildungswerkes entdeckt. Häkeln? Sicher, dafür gibt es Einführungskurse. Fotografie? Auch das kann man sich zertifizieren lassen. Aber der absolute Überflieger in allen Bereichen zu sein? Das, glaube ich, lernt man nirgends. Nicht an Universitäten, nicht in Online-Kursen und schon gar nicht im harten Schlagabtausch des echten Lebens. Und als ich letztes Jahr tatsächlich einmal auf eine Anzeige stieß, die wie die Faust aufs Auge zu passen schien und mein Interesse weckte, erhielt ich eine so „freundliche“ Antwort, dass es mich aus den Socken haute: „Entschuldigen Sie, Herr Luttmann, aber wir hatten da eigentlich jemanden Jüngeren im Sinn.“ Peng!

Aber gut, das war letztes Jahr. Und um es vorsichtig auszudrücken, das Jahr war mehr als nur beschissen. Es war ein echter Absturz in die Abgründe menschlichen Leidens. Ein Jahr, in dem die Tiefpunkte derart dicht gesät waren, dass man sie kaum alle zählen könnte, ohne in Tränen auszubrechen oder schlichtweg den Verstand zu verlieren. So viele Tiefpunkte, dass selbst das Aufzählen eine Art masochistisches Ritual darstellen würde. Das „Highlight“, wenn man diese bittere Pille so nennen möchte, war die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich an diesem ganzen Schlamassel selbst schuld war. Ich allein war der Dirigent dieses traurigen Orchesters, der Architekt dieses Ruinenhaufens meines Lebens. Ich war der Puppenspieler, der die Fäden so ungeschickt zog, dass am Ende nur noch Knoten übrig blieben.

Tatsächlich brauchte es einen epischen Nervenzusammenbruch und 15 Kilogramm Kummerspeck – ein wahrer Zuwachs an trauriger Masse –, um mir selbst diese Wahrheiten ins Gesicht zu pfeffern. Im Januar zog die Reißleine, trat die Notbremse und beschloss, mich für ganze vier Monate aus dem Zirkus des Alltags zurückzuziehen. Ich tauchte unter in eine Art selbstgewähltes Exil, fernab von all dem Chaos, das ich so kunstvoll geschaffen hatte. Rückblickend auf das Katastrophenjahr 2023 kann ich also sagen, dass ich das Jahr 2024 mit einer entscheidenden und weisen Entscheidung begonnen habe. Eine Entscheidung, die nicht nur ein neues Kapitel markiert, sondern vielleicht sogar den Beginn einer völlig neuen Geschichte, geschrieben von einem klügeren, wenn auch etwas gebeutelten Ich.

Schluss damit. Solche Dinge gehören nicht ins Internet. Zu privat, zu peinlich. Und die Leute? Die reden plötzlich. Am liebsten dann, wenn ihre eigenen Leben beschissener sind als abgestandenes Bier, oder wenn sie selbst so tief in der Scheiße stecken, dass sie sich nur noch an den Katastrophen anderer hochzuziehen können. Hab ich mal gehört. Ob’s stimmt? Keine Ahnung. Aber gut, vielleicht stecke ich tatsächlich einfach mitten in der Midlife-Crisis. Mit beinahe 43? Vollkommen legitim. Solange ich mir nicht plötzlich einen schnittigen Sportwagen zulege oder zum Golfclub sprinte, ist alles im grünen Bereich. Obwohl… Golf? Könnte tatsächlich seinen Reiz haben. Nein, statt dem kleinen weißen Ball nachzujagen, setze ich mich hier hin und schreibe. Ziellos, kopflos, themenlos. Einfach drauflos über das, was mir in den Sinn kommt. Ruppig, doch mit einer Prise Eleganz. Derb und distinguiert. Warum? Weil ich einfach verdammt nochmal Lust darauf habe.

Und wenn wir nicht am Leben sind, dann stehen wir längst mit einem Bein im Grab.