Laufschuhe, Lungenflattern und digitale Abgründe.

Am Sonntag, einem Tag, der in seiner gähnenden Leere selbst den hartnäckigsten Optimisten zu einem Misanthropen machen könnte, erreichte meine Verzweiflung über die vermeintliche Dummheit einiger Menschen ein neues Hoch. Eigentlich nicht der Rede wert, wirklich. Doch um dem idiotischen Treiben zu entkommen, zog ich meine Laufschuhe an und jagte meinen Frust über Asphalt und Pflastersteine. Getrieben von einer urmenschlichen Mischung aus Wut und Verzweiflung, begann ich, den Ärger wegzujoggen. Zehn Kilometer pures, schweißtriefendes Selbstmitleid, während meine Lungen flatterten wie die Flaggen eines gescheiterten Staates. Montag dann, ein Fiasko. Jeder Atemzug brannte wie Tequila auf einer offenen Wunde. Selbst die verfickte Luft anzuhalten wurde zur Folter. Trotzdem musste ich, keuchend und schnaufend, mit Talko raus. Ich torkelte durch die Straßen wie ein Typ, der gerade seine zwölfte Runde Jägermeister intus hatte, während in meinem Schädel ein paar übermotivierte Hobbyhandwerker den Begriff „Kopfschmerz“ neu definierten, indem sie fröhlich jeden einzelnen Buchstaben wieder und wieder in meine Hirnrinde hämmerten.

Die Stunden, in denen ich nicht, geplagt von Atemnot, mit Talko um die Häuser zog, verbrachte ich in einem dunklen Kokon auf meinem zu kleinen Sofa. Ich dämmerte vor mich hin, starrte auf den Fernseher, ohne den Sinn der Filme zu verstehen, die im Fiebernebel vor meinen Augen verschwammen. In einem dummen, beschissenen und mehr als albernen Augenblick versuchte ich, in den wirren Punkten der Raufasertapete geheime Botschaften zu entschlüsseln – natürlich vergeblich. Ich bin eben kein Verschwörungstheoretiker, kein Dan Brown des Proletariats. Der letzte Montag war ein Karussell aus Husten, Dösen, verworrenen Gedanken und noch mehr Husten. Ich fand weder Zeit noch den Hauch einer Motivation, einen Blick in die sozialen Medien zu werfen oder zu prüfen, wer mir auf WhatsApp etwas Wichtiges mitgeteilt haben könnte. Und ehrlich gesagt, die Liste der Menschen, die mich dort wirklich kontaktieren, ist kürzer als ein Versprechen in der Politik – man könnte sie mit einer verstümmelten Hand abzählen, an der zwei Finger und ein Daumen fehlen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich keine Freunde habe? Ich glaube schon.

Nach einem Tag der Stille und einer Nacht, in der ich endlich mal wieder Schlaf der guten Sorte genießen durfte, fühlte ich mich am Dienstag schon merklich besser. Klar, meine Beine waren noch wie Pudding, aber die Runden mit Talko liefen schon flüssiger, und das Wetter zeigte sich von seiner Schokoladenseite. Trotzdem mäßigte ich mich, verzichtete schweren Herzens auf jegliche sportliche Aktivität und wagte einen vorsichtigen Blick in die sozialen Netzwerke. Ich schlief erneut, stopfte mich abwechselnd mit gesundem und ungesundem Essen voll und ruhte mich weiter aus. Der letzte Apriltag verstrich, und irgendein alter Reflex ließ mich denken: „Alles neu macht der Mai“. Was für ein beschissener, abgedroschener Spruch. Und trotzdem hoffte ich darauf. Während der Abendrunde mit dem Hund begegneten wir den ersten angetrunkenen Jugendlichen, die ihre Bollerwagen, ausgestattet mit dröhnend lauter Musik, durch die Gegend zogen. Einmal, kein Witz, schien es, als würde Talko mich fragen wollen, ob die alle den Verstand verloren hatten. Ich hätte beinahe mit „Ja“ geantwortet, hielt aber zurück, in dem Wissen, dass ich in jungen Jahren selbst noch viel bescheuerter gewesen bin.

1. Mai. Die Langeweile des Feiertages und die letzte, verbliebene Schwäche meines fast dahinscheidenden Körpers trieben mich in die unermesslichen Weiten der sozialen Netzwerke. Ich gestehe freimütig, dass der Algorithmus von Instagram mich gnadenlos ins offene, digitale Meer gespült hat. Dort, in den Tiefen des Internets, muss man sich darauf einstellen, nicht nur die edlen Delikatessen des Meeres, sondern auch den Abschaum und den Klärschlamm zu erblicken, der oft gedankenlos in diese Weiten gespült wird. Inhalte, die sich mit dem Prädikat „Das finde ich gut, das poste ich“ schmücken, Beiträge der Generation „Blutgruppe Stopftabak“ und Kurzfilme aus der Kategorie „Mein Stammbaum ist ein Kreis“. Wahrhaftig, Fliesentischbesitzerinnen, die es morgens nicht schaffen, sich die Haare zu kämmen, erzählen mir, wie ich mit Kosmetikprodukten ein rentables Business aufbauen kann, oder Typen, die es nicht mal fertigbringen, das Wort „einzige“ korrekt auszusprechen, wollen mir Weisheiten darüber vermitteln, wie man Frauen für sich gewinnt. Alphamodus oder so ähnlich. Ehrlich gesagt, in solchen Momenten wünscht man sich fast eine Lungenentzündung, nur um zeitnah das Zeitliche segnen zu dürfen.

Dann gibt es natürlich diese Unternehmen, in denen die Azubis gezwungen werden, den neuesten Internet-Quatsch mitzumachen, nur um ein paar Likes mehr zu ergattern. Klaus und Karin mussten also im Auftrag der Bank den Rhabarberkuchentanz der Barbara tanzen. Das war so scheiße, dass ich vor Schreck zur Schwarzwälder Kirschtorte statt zum Frankfurter Kranz griff. Neben diesen Perlen bot mir das Spektrum der Story- und Reelszene auf Instagram, natürlich eine bunte Vielfalt. Da gab es Kurzvideos von Bollerwagentouren, singende Männer, tanzende Frauen, Bratwurst auf dem Webergrill, Bierpong, natürlich die unvermeidlichen Fitnessinfluencer, Menschen, die mit Halbwissen glänzen, Trailer von kommenden Kinofilmen, tanzende Männer, singende Frauen, Leute, die irgendetwas irgendwie besser wissen, Veganer*innen und ein Video, in dem mir jemand begegnete, den ich mal gekannt hatte. „Leck mich“, dachte ich, „wie weit bin ich jetzt ins offene Meer gespült worden…?“

Natürlich war ich am Ende, ganz zu schweigen von meiner Lunge, die sich manchmal wie ein Haufen nutzloser Scheiße anfühlt. Fieber könnte auch im Spiel gewesen sein, sicher bin ich mir da nicht. Aber ich schaute mir das Video noch einmal an. Und dann noch einmal. Manchmal pausierte ich es durch einen Druck auf den Bildschirm. Ich durchforstete das Profil der mir einst bekannten Person, betrachtete die zahlreiche Fotos von diesem Menschen. Zurück zum Video, zurück zum Profil. Ehrlich gesagt, ich fühlte mich ziemlich dämlich, aber wie das bei fiesen Verkehrsunfällen eben so ist: Man kann einfach nicht wegschauen. Und während ich die Portraits des Menschen mit der Person im Video verglich, wurde mir klar, dass die Vorstellung über sich selbst und die Realität meilenweit voneinander entfernt sein kann. Ich musste leise lachen, scrollte weiter und irgendwie freute ich mich insgeheim – auch wenn es fies ist – dass diese Person den Kontakt zu mir abgebrochen hatte. Egal, ich schloss die App und paddelte zurück aus den Weiten des digitalen Ozeans ans sichere Ufer der Realität und verließ das Zimmer. Draußen waren viele echte Menschen unterwegs, die teilweise tatsächlich sangen und tanzten. Beschissen zwar, aber immer hin. Und dort draußen, unter den Bäumen, an der frischen Luft fühlte ich mich um Welten besser. 

Heute ist der dritte Mai. Die zermürbenden Symptome meiner Erkältung scheinen endlich den Abflug zu machen. Während ich also langsam auf das Wochenende zusteuere, grüble ich noch immer über die Kuriositäten des Internets am vergangenen Feiertag. Ganz sicher werde ich mich jetzt nicht in die Schar der tugendhaften Menschen einreihen, die scheinbar alles im Griff haben, alles besser wissen und stets das Richtige tun. Nein, zu diesen Heiligen zähle ich mich definitiv nicht. Was mich jedoch umtreibt, ist die Frage, ob man wirklich jeden Scheiß im Netz zur Schau stellen muss. Ist es angebracht, sich für ein MLM-System zum Clown zu machen, wenn man nicht mal die Grundlagen der Körperhygiene beherrscht? Oder ist es nicht bescheuert, Männern online – und Gott bewahre, in kostenpflichtigen Kursen – beibringen zu wollen, wie sie mit Frauen umgehen sollen? Hand aufs Herz, die Typen, die glauben zu wissen, wie man Frauen anspricht, haben meistens keine Ahnung. Sie betiteln sich als Experten, merken aber nicht, dass sie am Ende die größten Trottel sind. Ihr Glück? Andere, noch größere Trottel, schmeißen ihnen das Geld in den Rachen. 

Ach, diese sozialen Netzwerke. Seit meiner freiwilligen Abstinenz hab ich eine Art Hassliebe zu ihnen entwickelt. Klar, sie können Plattformen für Kreativität und Austausch sein, manchmal treiben sie mir auch ein Lächeln aufs Gesicht. Doch gleichzeitig sind sie eine Bühne für Selbstinszenierungen und Selbsttäuschungen – eine verdammte Falle. Sie machen süchtig, rauben dir die Stunden, die du niemals zurückbekommst, sie verschlingen deine kostbare Lebenszeit wie ein verdammtes, schwarzes Loch. Vielleicht ist es die Mischung, die den Cocktail am Ende wirklich süffig macht. Als bloßer Konsument verblödet man auf Dauer garantiert. Doch wenn man die Plattform nutzt, um eigene Werke zu präsentieren – echte Kreationen, nicht nur kopierten Mist –, wenn man Ideen und Visionen teilt, echte Fotos postest, die mehr sind als bloße Trendhuldigung, dann, ja dann hat das Ganze vielleicht doch seinen Reiz. Wenn es authentisch ist. Und während ich so nachdenke, kommt mir wieder diese Person in den Sinn. Die Fotos auf ihrem Profil sind so stark bearbeitet, dass es schon fast weh tut. Ich überlege, ob ich sie einfach mal anrufen sollte. Einfach mal fragen, ob sie gerade glücklich ist. Warten wird sie nicht drauf, das weiß ich ganz genau. 

Und wenn wir nicht am Leben sind, dann stehen wir längst mit einem Bein im Grab.