Die vergessenen Tage des Bloggens

Das Leben? Eine Aneinanderreihung von Ereignissen, eine Kette von Entscheidungen, die wir treffen. Oder die andere für uns treffen, wenn wir es selbst nicht gebacken bekommen. Ob diese Entscheidungen nun richtig oder falsch sind, wer weiß das schon im Moment des Entschlusses? Wir können allenfalls mutmaßen, welche Tragweite unsere Wahlen haben könnten, aber sicher ist das nie – alles reine Spekulation. Was für ein kluger Gedanke, denke ich, und muss dabei leise lachen, denn eigentlich wollte ich gar nicht so tief in die philosophische Trickkiste greifen. Ich bin ja nicht so klug, wie ich früher gerne mal vorgeben habe. Eher Durchschnitt. Hauptschuljahrgang ’96, der Realschulabschluss war schon ein hartes Stück Arbeit, und über den Rest legen wir besser den Mantel des Schweigens. Ob die Entscheidungen, die ich getroffen habe, wirklich die besten waren? Das lassen wir mal dahingestellt. Aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Die Entscheidungen, die andere für mich getroffen haben, waren meistens kacke.

Natürlich könnte ich jetzt eine Liste von Beispielen herunterbeten, bei denen ich brav das getan habe, was andere von mir erwarteten – aber warum sollte ich das tun, nur um am Ende vielleicht jemandes Gefühle zu verletzen? Nein. Das kann ich gut, möchte ich aber nicht mehr. Doch zurück zum Thema: Es zeigt sich, dass die Entscheidungen, die ich nicht selbst traf, meistens perfekt die Hoffnungen, Träume und gelegentlichen Befindlichkeiten anderer widerspiegelten – nie jedoch wirklich meine eigenen. Und echt jetzt, ich musste 42 Jahre alt werden, um das schlussendlich zu begreifen. Fast 43, um genau zu sein. Der Bleistift für den Rentenantrag ist schon gespitzt und liegt bereit auf meinem Schreibtisch, und irgendwo im Hintergrund winkt mir fröhlich meine Midlife-Crisis zu. Lassen wir die Spitzfindigkeiten beiseite: Entscheidungen selbst zu treffen und auszuwählen, was man wirklich will, das ist nicht nur klug, sondern die einzige vernünftige Art zu leben. Alles andere? Eine himmelschreiende Lebensverschwendung. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum ich jetzt hier sitze, schreibe und solch philosophische Weisheiten von mir gebe.

Erst neulich kam ich mit Hannah ins Philosophieren, diesmal ging es um die gute alte Zeit des Internets und die Blogosphäre. Damals, bevor alles unbedingt einen Mehrwert haben musste und es nicht ausschließlich darum ging, Lösungen anzubieten, tummelten sich (damals noch) junge Leute im Netz, die gemeinsam gegen die Monotonie des Alltags rebellierten. Sie kämpften an den Fronten des Leichtsinns und schrieben mit einem Hauch von steigendem Wahn über alles, was das Internet und ihre eigenen Interessen hergaben. Es wimmelte nur so von persönlichen Blogs, auf denen die Leute wirklich alles mit der Welt teilten. Ganz anders als auf Instagram und Co. waren die Geschichten authentisch und meistens nicht darauf ausgelegt, zwangsläufig anderen zu gefallen. Man schrieb über das, was einen wirklich bewegte, manchmal in ellenlangen Texten, und andere lasen diese, verlinkten darauf und alle unterstützten einander. Verdammt, das waren noch Zeiten.

Es gab Bloggertreffen in den großen Städten dieses Landes, wo sich alle ganz locker zusammenfanden, um zu feiern und sich zu vernetzen. Gegrillt wurde, und, oh ja, es floss reichlich Alkohol. Wenn ich an mein letztes Bloggertreffen 2014 in Köln zurückdenke, muss ich zugeben, dass ich nicht mehr ganz sicher bin, wie dieser Tag zu Ende ging. Keine Sternstunde meiner Erinnerungen, sicher, aber es war ein vollgepackter Tag am Rhein mit Spaß, guter Unterhaltung, Musik und Leuten, die man bis dahin nur aus dem Internet kannte. Einige Blogs schafften den Sprung in die große Liga und wurden zu richtigen Magazinen. Ihre Reichweiten explodierten, Unternehmen wurden auf sie aufmerksam, und aus den einst kleinen Spielwiesen entstanden beinahe richtige Wirtschaftsunternehmen, in denen leider der Profit nach und nach die Leidenschaft überflügelte. Andere sahen das Potenzial und machten das Bloggen zum Geschäftsmodell. Die Unbeschwertheit verflog, ebenso wie die persönlichen Texte und die kleinen Anekdoten, die einst so frei in die Welt gesetzt wurden. Und als immer mehr Unternehmen das Bloggen für sich entdeckten, wurden Blogs zu den Arschgeweihen des Internets – jeder hatte eines, und plötzlich wollte sie keiner mehr sehen.

Die kleinen Blogs verschwanden nach und nach. Große Unternehmen, Agenturen, irgendwelche Internetgurus – wer auch immer – beschlossen, dass ein Blog handfeste Mehrwerte liefern, Profite abwerfen und einem Businessmodell folgen muss. Ohne es wirklich zu wissen, vermute ich, dass viele Blogger von dieser neuen, kommerzialisierten Blogosphäre einfach genug hatten und ihre einst so sorgfältig gepflegten Internettagebücher löschten. Denn plötzlich galten diese als unzeitgemäß oder nicht profitabel genug. Vielleicht passte es auch einfach nicht mehr ins Bild, einen Blog im Portfolio des Lebenslaufes zu haben. Ich erinnere mich selbst an ein Gespräch mit einem Vorgesetzten, der mir nahelegte, meine persönlichen Einsichten und Meinungen aus dem Netz zu nehmen, da sie nicht wirklich zu den Idealen des Unternehmens passten. Damals schrieb ich über Musik, Wacken, Festivals und Musikvideos – und meine Texte, das gebe ich zu, waren ziemlich rau und derb. Ich reagierte, wie es wohl die meisten getan hätten, und löschte alles.

Heute, wenn ich so darüber nachdenke, vermisse ich jene alten Blogs – diese wunderbar persönlichen Texte und Gedanken. Kein Instagram der Welt kann da mithalten, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und jedes Mal, wenn ich sehe, wie sich auf Instagram die selbsternannten Experten tummeln, die allen anderen weismachen wollen, wie man quasi über Nacht eine riesige Fangemeinde aufbaut, wird mir ein bisschen schlecht. Oder ziemlich arg schlecht. All dieses Gerede, dass nur die Zahlen zählen, finde ich ziemlich beschissen. Ich sehne mich zurück nach den Texten, die mit echtem Gefühl, mit einer rohen Authentizität und echter Hingabe geschrieben wurden. Diese kleinen Blogs, die einem offenbarten, welche Musik gerade den eigenen Lebenssoundtrack bestimmte oder welche bunte Hose zu welchen gewagten Schuhen getragen wurde. Hey, vieles davon war auf den ersten Blick natürlich banal, selten handelte es sich um philosophische Abhandlungen, aber alles war immer ehrlich und ungeschönt. Die ganze Sache hatte eine Unmittelbarkeit und eine Echtheit, die in der heutigen Zeit der perfekt inszenierten Instagram-Feeds einfach fehlt. Damals ging es nicht darum, wer die meisten Likes sammelt oder die glänzendsten Bilder postet. Es ging um echte Menschen, echte Geschichten und echte Gefühle. Ja, manchmal waren die Blogs chaotisch, unpoliert und alles andere als professionell – aber genau das machte ihren Charme aus. Sie waren wie das Leben selbst: unperfekt, überraschend und immer voller Herz.

Ich habe mich entschieden, wieder anzufangen, genau wie früher. Ich möchte schreiben – über die Events, die ich besuche, über die Mode, die ich trage, über Fotografie, Bücher, Texte und andere Blogs, über Gefühle. Ich plane, Texte zu verfassen, die mal lustig, mal banal, und manchmal auch nachdenklich sind – über gutes Essen, über andere Fotografen, ohne mich dabei in eine Schublade stecken zu lassen oder mich einem speziellen Thema zu verschreiben. Ich habe nicht vor, Probleme zu lösen, keine psychologischen Tiefen zu ergründen oder anderen zu erzählen, wie sie ihr Leben verbessern können. Das liegt mir nicht, das kann ich nicht und ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Bock darauf. Vielleicht gelingt es mir, andere zu inspirieren, es ebenso zu machen und vielleicht – wirklich nur vielleicht – erleben die kleinen Blogs mit ihren persönlichen Texten und Geschichten eine Renaissance, eine Art fröhliche Wiederkehr. Es würde mich ungemein freuen, wenn das passieren würde. Aber wichtig ist, dass die Autorinnen und Autoren das aus freien Stücken tun, denn nur dann kann es wirklich gut werden. Es geht darum, authentisch zu bleiben und die eigene Stimme zu finden und zu nutzen, ganz ohne den Druck, sich verkaufen zu müssen. Nur so kann die Magie der alten Tage, als Blogs noch echte Fenster in reale Welten waren, vielleicht wieder aufleben.

1 Kommentar
  1. Jonas
    Jonas sagte:

    Ja. Das waren bessere Zeiten damals. Damals, als twitter noch nicht irgendeinem crazy Milliardär gehört hat und man noch Digitalkameras nutzte und keine Touchscreen-Smartphones.

    Pirgofabrik ftw! 😆

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